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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Etwas über einen alten Mann, der seine keifende Frau mit Schlägen durch die ganze Stadt – juhu trieb.
    »Sehe ich so albern aus wie Ihr?« fragte ich.
    »Noch alberner«, sagte er und blies eine Feder fort, die gerade auf meiner Nase landen wollte. Ich zog die Füße hoch und er den Vorhang zu.
    »Es war gräßlich«, sagte er. »Ich habe gedacht, du magst mich nicht mehr – du bist so bissig gewesen.«
    »Und ich habe gedacht, Ihr möchtet mich nicht mehr«, sagte ich. »Kein einziges freundliches Wort – kein einziger Blick. Ihr habt mich nicht einmal mehr über Aristoteles belehrt wie in früheren Zeiten.«
    »Alles Vaters Schuld«, seufzte Gilbert. »Er macht mich wahnsinnig. Und jetzt stecke ich seinetwegen bis zu den Ohren in Rechtsstreitigkeiten wegen deines Landbesitzes – deine Ländereien sind nämlich in einem heillosen Wirrwarr, und es gibt mindestens ein halbes Dutzend Anwärter, die kein Recht darauf haben – ich habe keinen einzigen Augenblick mehr für mich allein.«
    »Früher, wenn Ihr davon erzählt habt, konnte ich das mit Eurem Vater einfach nicht begreifen«, flüsterte ich ins Dunkel. »Aber jetzt weiß ich, daß Worte zu armselig sind, ihn zu beschreiben.«
    »Ach, wie wahr.« Er seufzte wieder. »Der Grund ist, ich sollte immer genau wie Hugo sein. Bewunderst du Hugo auch? So wie die meisten Frauen?«
    »Nein, ich finde ihn gräßlich. Am Kopf kommt er mir vor wie ein gerupftes Huhn, und der Schlaueste ist er auch nicht gerade.«
    »Ein gerupftes Huhn, ha. Da hast du recht. Darauf wäre ich nie gekommen.« Ich nahm seine Hand, und dieses Mal entzog er sie mir nicht.
    »Oh, Gregory, Gregory, es tut mir so leid, daß ich Euch vor ihnen blamiert habe. Seid mein Freund, mehr begehre ich nicht.«
    »Du solltest dich schämen«, sagte er kleinlaut. »Einen schönen Anblick müssen wir abgegeben haben.« In der Dunkelheit hinter den Vorhängen konnte ich ihn nicht sehen, doch ich spürte seinen warmen Atem. Ich weiß auch nicht warum, aber mir wurde ganz anders. »Es ist meine Schuld. Beim Anblick deiner Wunden war ich wie von Sinnen.«
    »Ach? Wirklich?« Ich spürte, wie er ein wenig erschauerte.
    »Gregory, habt Ihr es schon einmal getan?« fragte ich ins Dunkel.
    »Margaret, du weißt doch, daß ich mich für Gott aufgehoben habe. Ich habe nie gesündigt. Na ja – jedenfalls nicht auf diese Weise.«
    »Es ist keine Sünde, wenn man verheiratet ist und wenn man – diejenige – gernhat und es – möchte«, versicherte ich ihm.
    »Daran allein liegt es nicht – es liegt auch an ihnen. Immer lungern und schnüffeln sie herum. Das ist die erste Nacht, wo nicht alle hier oben sind und mitzählen möchten, wieviele Mal – genau wie bei einem von Vaters Zuchthengsten. Das halte ich einfach nicht aus.« Ich streckte die Hand aus und ergriff seinen Arm. Ich merkte, daß er am ganzen Leibe zitterte.
    »Mein Gott, wie schön du bist«, sagte er, gerade bevor ich ihn küßte und zu mir herabzog. Viel brauchte ich ihm nicht zu zeigen. Irgendwie schien er alles schon zu wissen. Ich war es, ich, die alles wußte, doch nichts wußte. Wie hätte ich auch die Leidenschaften eines ganzen Lebens ermessen können, welche er hinter hohen Mauern verschlossen gehalten hatte, bis ich das Tor öffnete und in ihren Fluten unterging. Ich spürte, wie die Hitze seines Leibes meinen entzündete, mir wurde ganz heiß, meine Haut flirrte, während in und zwischen uns ein seltsam bebender Blitz aufzuckte. Ich weiß nicht einmal, wie ich das benennen soll, was wir in jener Nacht taten. Inmitten des Feuers, inmitten der Sonne – wir vergingen, und nur noch wispernde, weiße Asche blieb von uns übrig. Und irgendwann mittendrin ging mir auf, daß dieses die Inbrunst des Leibes sein mußte, welche die Sänger besingen: Der Stoff, aus dem Träume und Verdammnis sind und der hungriger macht, je mehr man davon bekommt. Blind und wahnwitzig entzündeten wir uns an uns selbst und waren nur uns zu eigen. Ein Gedanke kam an die Oberfläche gewirbelt und trieb dahin wie ein sinkendes Schiff: Ist das Sterben? Dann sterbe ich hier und jetzt. Und schon zog uns der Sog wieder hinab.
    Kurz vor dem Morgengrauen schliefen wir völlig erledigt und erschöpft von unseren Liebesspielen ein. Erst ein paar Tage später erinnerte ich mich wieder, daß ich genau in dem Augenblick, als mir die Augen zufallen wollten, so etwas wie einen seufzenden Hauch hörte und das kalte Ding spürte, und dabei waren die Vorhänge fest zugezogen.

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