Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
Vom Netzwerk:
ihn noch immer habt?«
    »Zweifelt Ihr an meinem Wort?«
    »O nein, niemals. Ich? Ich armer, bescheidener Sucher der Wahrheit, ich sollte das Wort eines Edelmanns anzweifeln? Oh, ausgeschlossen.«
    »Fordert mich nicht heraus«, knurrte der Graf. »Humor ist mir zuwider. Und Satire noch mehr. Die Zuflucht von Possenreißern und dem Abschaum der Menschheit. Wollt Ihr sehen, was Euch geschieht, wenn Ihr mir mit Humor kommt?«
    »– ehem, jetzt nicht. Später vielleicht.«
    »Jetzt ist genau der richtige Moment. Schließlich habe auch ich Sinn für Humor. Von der richtigen Art. Es wird mir, glaube ich, ein Vergnügen sein, Eure Miene zu studieren.« Und mit einem Fingerschnalzen rief er zwei der riesigen, stummen Helfer herbei, die Bruder Malachi an beiden Ellenbogen packten und ihn praktisch hochhoben.
    »Messer Guglielmo, ich möchte, daß Ihr auch mitkommt. Ich will Euch zeigen, was mit Leuten geschieht, die mich zum Narren halten. Das wird Euer Hirn beflügeln.« Eine Handbewegung, und schon wurde Bruder Malachi die dämmrige, steinerne Stiege ins Reich der ewigen Finsternis hinuntergeschleppt. Zwei Fackelträger leuchteten ihnen, zwei weitere folgten dem Trupp. So war Bruder Malachi gezwungen, sich die rauchverrußte Decke des engen Ganges anzuschauen und zu überlegen, wieviele solcher Spaziergänge der tropfende Ruß bedeuten mochte.
    Schon bald mündete der Gang in einen niedrigen, gewölbten Raum, der sein Licht hauptsächlich von den glühenden Kohlen bezog, die ständig unter einem Kessel mit ranzigem Fett brannten. Neben dem Feuer stand ein Ständer mit Eisenwerkzeugen, wie man sie zum Heizen brauchte: Zangen, Schürhaken und Brandeisen. Bruder Malachi fiel ein kleines Kohlebecken ins Auge, das wie ein niedriger Kasten auf Beinen gebaut war und ungefähr die Höhe eines Schemels hatte. Das, o ja, das hatte er schon einmal gesehen. Ein Lieblingswerkzeug der Inquisition. Er zuckte fast unmerklich zusammen.
    »Warum seid Ihr mit Frauen angereist, Theophilus? Wo Ihr so zartbesaitet seid.« Die Stimme des Grafen klang ölig und drohend. Malachi blickte sich unter den scheußlichen Werkzeugen im Raum um: Flaschenzüge an der Decke, eine Streckbank, der spanische Stiefel und eine Reihe anderer Instrumente, deren Zweck nur allzu klar war. Nie im Leben war ihm mulmiger zumute gewesen.
    »Ja, zartbesaitet. Seht Euch das hier an. Hübsch und scharf, nicht wahr?« Der Graf blieb vor einer eisernen Jungfrau stehen, an der dunkles Blut klebte. »Drückt seine Hand in die Stacheln – aufpassen, nicht zu fest. Er braucht sie heute abend noch zum Goldmachen.« Man schleifte Bruder Malachi zu dem Apparat und drückte seine rechte Hand auf die Stacheln. »Was haltet Ihr davon, Ihr verweichlichter, feiger, kleiner Wurm?«
    »Sie – sie würde meiner zarten Haut nicht gut tun.«
    »Oh, ja – Eure zarte Haut, die Ihr Euch auf Euren Wanderungen quer durch Europa zu erhalten gewußt habt. Immer noch humorvoll, wie? Mein Meister kann Humor nicht leiden. Und heute abend bringt Ihr ein Opfer und beschwört ihn, damit er Euch hilft, nicht wahr?« Bruder Malachi wurde aschfahl und sackte zwischen seinen Häschern zusammen.
    »Frische Augen und ein frisches Herz, richtig, Messer Guglielmo? Ich habe von der letzten Jagd noch einen Kleinen übrig. Den habe ich fast zu Tode gespielt – er langweilt mich bereits. Was murmelt Ihr da, Theophilus? Gebete? Die helfen hier nicht. Oh, ja – Euer Handel. Das Beste hebe ich mir bis zum Schluß auf.«
    Die Stummen holten sich Fackeln aus den Haltern, und dann schlängelte sich die kleine Gruppe in die Tiefe auf einer Treppe, die anscheinend direkt aus dem Felsen herausgeschlagen war. Bruder Malachi spürte, daß von der Decke eiskalte Tropfen auf sein Gesicht fielen und hörte sie aufzischen, wenn sie mit den Fackeln in Berührung kamen. Dann verbreiterte sich der Gang. Hier blieben sie vor ein paar in den Boden eingelassenen Gittern stehen. Verwesungsgestank drang aus ihnen hoch. Der Graf ergriff eine Fackel, ging zum entferntesten Gitter und hielt sie nach unten an die Stäbe. Mit der freien Hand zog er eine Ambrakugel aus dem Beutel an seinem Gürtel und hielt sie sich vor die Nase. Unter dem Gitter war eine heisere Stimme zu hören.
    »Da seid Ihr ja wieder, Ihr übler Verseschmied. Was habt Ihr dieses Mal verbrochen?«
    »Ich werde Euch meine ›Ode an den Sommer‹ rezitieren.«
    »Das Thema ist verbraucht. Stellt Euch der Wahrheit – Ihr habt einfach keine Phantasie.«
    »Ihr müßt nur

Weitere Kostenlose Bücher