Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
Vom Netzwerk:
sagen, daß sie gut ist, und schon seid Ihr so frei wie ein Vogel.«
    »Ausgeschlossen. Ihr habt noch keine Zeile zuwege gebracht, die nicht abgedroschen ist.«
    »Abgedroschen? Ich und abgedroschen? Wißt Ihr nicht, wo Ihr seid, Ihr verwanzter Bänkelsänger?«
    »Wie könnte ich das vergessen? In Eurem Verlies – wohin Ihr kommt, um mir den Inhalt Eures Nachtgeschirrs oder die Ergebnisse Eurer dichterischen Darmkrämpfe über den Kopf zu schütten. Kaum ein Unterschied zwischen beiden – stammt offenbar aus der gleichen Öffnung. Holt mich heraus und tretet mir wie ein Mann gegenüber, Ihr Feigling.«
    »Ich hole Euch nicht heraus, ehe Ihr nicht wie ein Wurm vor mir auf dem Bauch kriecht, mir die Füße küßt und weint und sagt, daß Ihr nie bessere Verse als meine vernommen habt.«
    »So zieht mich denn hoch. Ihr habt genügend Werkzeuge dort oben, daß sich sogar ein Priester dem Teufel verschreibt. Einen Dichter zum Weinen zu bringen dürfte nicht halb so schwer sein.«
    »Es soll von Herzen kommen.«
    »Ausgeschlossen.«
    »Ausgeschlossen? Das glaube ich nicht.« Und der Graf stieß zu wie eine Schlange und gab Bruder Malachi eine gewaltige Ohrfeige. Als dieser aufschrie, ließ er ihn auf das Gitter werfen.
    »Wer ist da oben?«
    »Gilbert, ich bin's.«
    »Theophilus? Du? Was zum Teufel treibst du da oben? Du tropfst ja – hmm, Blut.«
    »Ist nur Nasenbluten, Gilbert. Mach dir keine Sorgen.«
    »Er ist gekommen, um Euch freizukaufen. Ist das nicht aufmerksam? Doch das Beste kommt noch, Gilbert l'Escolier –«
    »De Vilers, Strohkopf.«
    »Ihr beharrt also auf der Maskerade, Ihr Schurke? Das ist das allerschlimmste Verbrechen überhaupt – sich für einen Edelmann auszugeben.«
    »Ihr müßt es ja wissen.« Die Stimme klang noch rauher, schwächer, doch immer noch trotzig. In der Grube wurde gehustet. Bruder Malachi konnte im Halbdunkel spüren, wie der Graf noch wütender wurde und sein riesiger Leib die Wut wie eine Hitzewelle ausstrahlte.
    Verzweifelt flüsterte er in die Grube hinunter: »Gilbert, um Gottes Willen, sag ihm, daß dir seine verfluchten Verse gefallen und komm heraus.«
    »Et tu , Theophilus? Aber es stimmt nicht, und darum sage ich es nicht.«
    »Du Idiot – und ich gebe im Austausch für einen solchen Dickkopf wie dich auch noch das Geheimnis der Transmutation preis.«
    »Den Stein der Weisen? Guter Gott, Theophilus, willst du, daß ihm halb Europa in die Hände fällt? Ich hätte dich für vernünftiger gehalten.«
    »Ist er aber nicht«, fuhr die Stimme des Grafen dazwischen, eine vor unterdrückter Wut ganz ölige Stimme. »Doch wie üblich habe ich mir die beste Überraschung bis zum Schluß aufgehoben. Ich bin sicher, Margaret wird Euch von meinem Standpunkt zu überzeugen wissen – Stück für Stück, wenn Ihr versteht, was ich meine.« Malachi erstarrte vor Entsetzen.
    »Ihr habt sie nicht«, kam die Stimme aus der Grube. »Und Ihr bekommt sie auch nicht. Sie ist daheim und in Sicherheit. Zwischen ihr und diesem Ort liegt ein Ozean.«
    »Doch nicht mehr lange, Ihr kreischende Dohle. Ich habe sie herbeizaubern lassen. Noch vor dem nächsten Neumond ist sie hier.«
    »Unfug.«
    »Unfug? Wir werden ja sehen.« Der Graf wandte sich an die Stummen. »Schnappt Euch den schlotternden kleinen Alchimisten da und bringt ihn nach oben. Ich will, daß er heute abend mit seinem Verfahren beginnt. Und schließt ihn ein. Er darf keinen Fuß mehr aus den Geheimkammern setzen, bis er nicht Gold gemacht hat. Wenn er Erfolg hat, so fesselt ihn und bringt ihn zu mir, gleichgültig zu welcher Tages- oder Nachtzeit. Und – o ja. Verbindet ihm die Augen. Ich möchte kein Risiko eingehen, daß jemandem von außerhalb das Geheimnis dieser Kammern übermittelt wird.« Bruder Malachi gefror bei diesen Worten das Blut in den Adern. Jählings ging ihm auf, daß kein Lebewesen in dem Laboratorium die Vollendung des Großen Werkes überleben sollte.

    Als das Pförtnerhorn im steinernen Innenhof widerhallte, rannten die pucelles aus dem Vorzimmer der Gräfin zu den Fenstern und hingen sich hinaus. »Besucher, Besucher!« riefen sie. »Oh, laßt mich sehen!« Schließlich sind Besucher immer ein Hoffnungsstrahl – es könnte sich darunter ein künftiger Ehemann befinden. Mutter Hilde unterdrückte ein Lächeln und zerstieß im Mörser ungerührt Kräuter für einen Umschlag. »Was ist ihr Rang? Könnt ihr das Wappen erkennen?« kamen die aufgeregten Stimmen der Gesellschafterinnen. »Noch nie gesehen«, kam

Weitere Kostenlose Bücher