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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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es enttäuscht vom Fenster. »Ein Ausländer – drei Herzmuscheln und ein Drache – nein, ein Löwe.«
    Drei Herzmuscheln? Mein Gott! Ich sprang auf, verließ die Feuerstelle und drängte mich zum Fenster durch. Bei dem Anblick unten wollte mir das Herz stehenbleiben. Ein Ritter in voller Rüstung mit hochgeschlagenem Visier, den Pilgermantel hinter den Sattel geschnallt, führte den Zug an, der vom Burgtor in den Innenhof kam. Neben ihm ritt sein Knappe und hinter ihnen sechs Reisige, die eine verhüllte Frau auf einem weißen Zelter begleiteten. Unter ihrem schweren, dunklen Umhang lugte ein leuchtend rotes Kleid hervor. Das Wappen – es gab nicht den geringsten Zweifel. Sir Hugo de Vilers hatte mich am Ende doch noch gefunden! Und als ob das nicht genug wäre, er hatte auch noch meine hochfahrende und nachtragende Schwägerin mitgebracht, damit sie Zeugin meiner Niederlage wurde. Oh, ich täuschte mich nicht – das Kleid hätte ich überall herausgekannt. So nahe am Ziel – und nun war Gregory für immer verloren! Ich konnte mein Zittern nicht verbergen, als ich wieder zu Mutter Hilde zurückkehrte.
    Doch jetzt waren die Kemenaten in hellem Aufruhr, denn bei dem Gedanken, daß eine Edelfrau zu Besuch kam, war die Gräfin aus ihrer Teilnahmslosigkeit erwacht und stöberte fieberhaft in ihren Truhen.
    »Endlich einmal eine Dame zur Unterhaltung – Sagt mir, was bedeutet das Wappen? Ich habe es nicht erkannt.« Die Gräfin befragte eine Dienerin, die beim Empfang im Palas etwas mehr gesehen hatte.
    »Ein englisches Wappen, Madame.«
    »Oh, vielleicht noch ein Gesandter. Vom Heer des englischen Prinzen in Bordeaux?«
    »So hat er gesagt, Madame.«
    »War die Dame gut gekleidet? Vielleicht kann sie mir über die neueste Mode berichten. Ach, es ist so schwer, mit dem neuesten Stil aufzuwarten, wenn man wie ich auf dem Lande begraben ist.«
    »Sie war in Hellrot mit Goldstickereien, Madame.«
    »Hellrot, sagst du? Dann tut es dieser alte, braune Samt wohl kaum. Schon ganz abgeschabt. Da sieh nur! Es ist eine Schande, daß der Graf mich nie mehr nach Orleans reisen läßt, damit ich mir Kleider machen lassen kann wie früher, als ich noch in seiner Gunst stand. Hellrot – oh, nicht das Blaue, nein –«
    »O ja, die ist richtig. Viel hübscher als hellrot. Ja – die goldene Seide – sag, ist sie zerknittert?«
    Und so ging es und ging es, derweil Mutter Hilde und ich am Feuer kauerten und flüsterten, was aber in dem Aufruhr unterging.
    Beim Abendessen durfte die Gräfin endlich aus ihren Räumen und gleißte und funkelte, wie sie da unter ihren Damen saß, ihr zur Seite die schöne Besucherin. Sir Hugo war ein schlichter Ritter und nicht einmal Bannerherr, und so saß er viele Plätze tiefer als der edle Gesandte des Grafen von Foix. Man munkelte bereits, daß der Ritter vom englischen Heer in Bordeaux käme und daß die Edelfrau an seiner Seite seine Schwägerin sei, die er hierher begleitet hatte, damit sie eine merkwürdige Bitte des Comte de St. Médard erfülle: Er wollte Lösegeld für ihren Mann nur aus ihrer Hand entgegennehmen.
    »Und denkt nur«, sagte der geschwätzige Bruder Anselm, der sowohl in der langue d'oc wie in der langue d'oil zu Hause war, »hier gibt es gar keinen adligen Gefangenen, es sei denn, er ist unten eingesperrt, was ein schrecklicher Bruch ritterlicher Regeln wäre. ›Oh, ausnehmend unritterlich vom Grafen – die Verachtung der ganzen Christenheit würde ihn treffen‹, so sagte ich zum Knecht des Gesandten, und der erwiderte: ›Das meint auch mein Herr, und er hat den Grafen gewarnt, sich die Engländer nicht zu Feinden zu machen, solange sie vor der Haustür stehen, insbesondere da er nicht weiß, mit wem sich sein eigener König verbünden wird. Doch der Graf hat lediglich geknurrt, daß der König von Navarra durch List an der Tafel des französischen Königs gefangen wurde und daß niemand behauptet, der französische König hätte sich unritterlich verhalten. Doch mein Herr hat gesagt, daß der Graf von Foix nicht mit jemandem Frieden schließen kann, der sich den englischen Prinzen zum Feind macht.‹ Ihr merkt, es ist durch und durch merkwürdig. Ei, seht einmal zur Empore hin. Das ist mir eine schöne Ehefrau. Die macht ja dem Gesandten schöne Augen.«
    Selbst von meinem Sitzplatz aus, wo ich mich hinter dem dicksten Pilger versteckte, damit man mich nicht entdeckte, konnte ich sehen, wie der Gesandte, dessen Gesicht rot von Trunk und Begierde war, sich unter seinem

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