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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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grauen Schnurrbart lüstern die Lippen nach ihr leckte. Und obwohl sie zum Reden zu weit von ihm entfernt saß, übermittelten ihre Augen ihm Botschaften, die nicht zu übersehen waren. Und wer hätte sie schon übersehen können? Die Blicke aller Männer hingen an dieser strahlenden Schönheit. Unter ihrer perlenbesetzten Haube lugten zarte, goldene Ringellöckchen hervor, und sie errötete niedlich und blickte sittsam auf den Tisch. Unter diesen fahlen, südlichen Gesichtern strahlte sie mit ihrem englischen Weiß und Rosa wie ein Edelstein. Und wann hätte je ein Kruzifix so aufreizend auf einem sich hebenden, schwellenden Busen gelegen, wie ihn ihr eng geschnürtes, tief ausgeschnittenes, hellrotes Mieder offenbarte. Mit dem Kleid hatte ich mich nicht getäuscht. Ich kannte es nur zu gut. Doch so hatte es an Lady Petronilla gewißlich nicht gewirkt. Wer war die Frau, die es trug? Sie schlug die Augen nieder – ich mußte warten, bis sie aufblickte. Und dann starrte ich sie an, daß ich mich fast an meinem Wein verschluckte. War es die Möglichkeit? Aber wer sonst konnte es sein. Es war Cis, die Wäscherin! Was um alles auf der Welt führte sie in diesem Aufzug hierher?
    Cis saß auf der Empore wie ein leuchtend farbiger Schmetterling genau mitten im Netz des Grafen. Sie flatterte und warf unter den Wimpern Blicke, so als ob sie nicht wüßte, daß ihre Füße im tödlichen Netz festklebten. Dann sahen wir, wie die Gräfin das Wort an sie richtete, doch sie starrte auf ihren Teller und errötete schon wieder, was die Herren in Begeisterung versetzte. Die Gräfin wirkte entmutigt. Sie winkte einer anderen Dame und ließ sie mit der schönen Fremden reden. Erneut dieses niedliche Erröten. Der Gesandte schickte ihr als Gunstbeweis seinen Becher mit Wein, und sie warf ihm unter ihren Wimpern einen dankbar bewundernden Blick zu. Der Graf wölbte bei dem Austausch eine Braue, und seine roten Lippen zuckten, als ob er irgend etwas Ekelhaftes schmeckte. Ich fand, sein Blick verhieß nichts Gutes. Dann richtete er eine Bemerkung an den Mann zu seiner Linken. Ach, wie gern hätte ich gehört, was dort vor sich ging.
    Endlich war das Abendessen zu Ende, und dabei hatten Mutter Hilde und ich kaum einen Bissen angerührt. Man räumte die Tische für die abendliche Kurzweil beiseite. Ich mischte mich so unsichtbar wie möglich unter die Schar der Pilger, welche die Lustbarkeiten gern aus der Nähe sehen wollte und schob mich vorsichtig dichter heran, denn ich wollte alles hören, was dort vor sich ging. Es war so ziemlich das Übliche im Stil des Grafen, eine Art prächtiges, kleines Historienspiel, das der Herr von St. Médard selbst eingerichtet hatte und das seinen Kunstsinn und Geschmack vorführen sollte. Zunächst spielten und sangen die Spielleute. Dann kamen Tänzer, dieses Mal als ›Wilde‹ verkleidet und in haarigen Fellen und mit Wolfsmasken, die beim Herumtollen spöttische, unzüchtige Gebärden machten. Ihnen folgten ganz in Seide gekleidete Jünglinge, die etwas sehr Symbolisches darstellten, und verfolgten die Wilden mit Stäben, um die sie Seidenbänder gewunden hatten. Dem Gesandten war es gelungen, einen Platz neben Cis zu ergattern. Sie machte sich das zunutze, und ihre Hand stahl sich zu seinem Schoß. Seine Hand wiederum schien irgendwo hinter ihr zu verschwinden, wo man sie nicht mehr sehen konnte. Als Pagen die Trompete bliesen und damit etwas ganz Besonderes ankündigten, beugte sich der Graf zu Hugo auf Cis' anderer Seite und sagte laut und vernehmlich:
    »Die nächste Schöpfung ist von mir; sagt mir, was Ihr davon haltet.«
    Nun folgte ein albernes Liedchen über den Sommer. Die Worte reimten sich irgendwie, aber wenn ich auch wenig von Dichtkunst verstehe, so weiß ich doch, daß etwas Gesungenes klapper-di-klapp wie Pferdegetrampel gehen muß und nicht von Trab zu Galopp wechseln darf oder als ob das Pferd jählings lahmt. Und, o du liebe Zeit, da flöteten doch wahrhaftig Hirten, und Maiden tanzten und Vögel zwitscherten, doch alles irgendwie falsch, wobei ich jedoch nicht zu sagen gewußt hätte, wieso. Nach dem Lied gab es ein höfliches Gemurmel, denn schließlich hatte jedermann die Worte des Grafen mitbekommen.
    »Nun?« fragte der Graf. Sir Hugo rutschte unbehaglich hin und her.
    »Also, ich kann mit Poesie nicht viel anfangen. Ich bin eben Soldat. Ich mag Jagdhörner – ha! Das ist Musik für mich! Aber ich fand es sehr schön. Ja, vor allem die Stelle mit den Vögeln, wo sie

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