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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Wein dürfte Euch warm machen.« Er deutete zum Tisch. Unter dem Geschirr mit dem Nachtmahl glänzten die Gold- und Silberfäden der Stickerei im Kerzenschein. Hinter dem Tisch stand ein Bänkchen mit Rückenlehne.
    »Ich bin – nicht durstig. Ich will ihn wiederhaben. Ihr habt bereits geschworen –«
    »Seid doch nicht so ängstlich. Zweifelt Ihr an meinem Wort? Da – hier ist der Ring.« Er mußte tüchtig an ihm drehen, sonst hätte er ihn nicht herunterbekommen, so tief hatte er sich eingegraben. Das verdarb die große Geste, was ihn kurz zu ärgern schien. »Ich lege ihn auf den Tisch, so, als Pfand.« Seine Bewegungen waren so behutsam und geschmeidig, als wollte er ein wildes Pferd zähmen – er ließ mich keinen Augenblick aus den Augen, während er ihn auf den Tisch legte.
    »Und das Siegelwachs auch. Könnt Ihr es dort sehen?« sagte er mit der beschwichtigenden Stimme eines Dompteurs. »So setzt Euch doch und trinkt ein wenig Wein.«
    »Der könnte vergiftet sein«, summte ein kühles Stimmchen in meinem Kopf.
    »Habt Ihr Angst vor dem Wein? Seht her. Wir haben nur einen einzigen Becher. Einen Liebespokal. Heute nacht trinken wir beide daraus. Seht Ihr? Ich trinke zuerst.« Er trank den Wein mit einem großen Schluck, dann schenkte er aus dem Silberkrug nach.
    »Der schon ausgeschenkte Wein war in Ordnung. Hüte dich vor dem Wein im Krug.« Das silbrige Summen in meinem Kopf schien von weither zu kommen.
    »Kommt, setzt Euch«, sagte er wieder in diesem gelassenen, furchterregenden Ton.
    »Ich bin nicht müde«, erwiderte ich. »Ich bin gekommen, um über Gilbert de Vilers zu reden. Ich will Pferde haben, ich will Euren Ring haben. Ich will sobald wie möglich fort von hier. Ein Edelmann hätte mir diese Dinge ohne diese – Scharade angeboten.«
    »Setzt Euch!« brüllte er, und sein Jähzorn machte mir Angst. Ich nahm Platz.
    Er drängte sich neben mich auf das Bänkchen, und das konnte seinen Umfang kaum fassen. Ich spürte, wie sich all diese Speckwülste unter dem Hausmantel an mich preßten. Der fiel nämlich auf und offenbarte eine eigenartig haarlose Brust – nein, nicht haarlos. Rasiert. Pfui. Wie abstoßend. Und sein Leib roch so ekelerregend süßlich. Was war das nur? Pu. Fliederwasser. Wenn ich hier jemals herauskomme, dachte ich, kann mir Flieder für immer gestohlen bleiben. Hirn, Hirn – laß dir etwas einfallen. Rasch, rasch.
    »Ihr seid nicht durstig? Dann probiert – einen Kapaunschlegel.« Er bohrte die Finger in das Fleisch des toten Vogels und grub einen Bissen aus, den er mir zwischen Daumen und Zeigefinger an die Lippen hielt. Ich merkte, wie meine Augen groß wurden und sich mir der Magen umdrehte.
    »Ich – ich bin nicht hungrig.«
    »Nicht hungrig?« fragte er, verspeiste den Bissen selbst und wischte sich mit der Serviette die Lippen. »Köstlich.« Er schmatzte mit den eigentümlich roten Lippen. »Diese Soße – ich bin Soßenkenner.«
    »Ich will Sir Gilbert jetzt haben.«
    »Jetzt? Diesen haarigen, barbarischen Affen?« Er merkte, daß sich meine Augen wie gebannt, doch entsetzt zu den nackten Speckrollen stahlen, die der offene Hausmantel enthüllte.
    »Frauen finden das bezaubernd«, sagte er und musterte meine Miene. »So bin ich am ganzen Leib. Ihr solltet es selbst ausprobieren. Der Schmerz – ist – gar köstlich.«
    Ich war so angewidert, daß ich den Mund nicht halten konnte.
    »Genau wie ein dicker, großer, häßlicher Säugling«, rutschte es mir heraus, und dann zuckte ich zurück und wartete auf den Hieb.
    Aber er freute sich darüber, und beim Lächeln glänzten seine gräßlich roten Lippen feucht von Speichel.
    »So ist es. Ein niedlicher, niedlicher Säugling. Wie könnte ein so süßer Säugling Euch wohl etwas Böses antun? Es wird Euch unendlich gefallen. Der höchste Augenblick Eures Lebens –«
    Lieber Gott, steh mir bei, steh mir bei, betete ich stumm. Hol mich und Gregory hier heil und ganz heraus. Ich habe nicht gewußt, daß Du derart abstoßende Menschen geschaffen hast. Zeit. Ich brauche Zeit.
    »Ich – hm fand Eure ›Ode an den Sommer‹ sehr schön«, machte ich einen Versuch. Ich spürte, wie die Spannung in dem abscheulichen Leib ein wenig nachließ.
    »Was daran hat Euch am besten gefallen?«
    »Das – äh – das Sommerliche. Sie war so ausnehmend sommerlich.«
    »Und –?«
    »Das mit den Vögeln – das war hübsch – ehem, das ›tirili‹. Und die Blumen. Ich mag Blumen.« Alle außer Flieder, dachte ich. Den will ich nie

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