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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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erhaltet ihn unterzeichnet und dazu noch diesen Ring von meinem Finger, nachdem Ihr mich in meinen Gemächern aufgesucht habt«, erwiderte der Graf. Sein ausdrucksloser, überheblicher Ton gefiel mir nicht.
    »Und ich möchte ihn in anständigem Französisch haben – nicht in Latein oder irgend etwas, das ich nicht lesen kann.«
    »Schlau, schlau, diese Frau«, hörte ich jemanden hinter mir. »So hat der König einst ein Todesurteil geschickt – Tod dem Überbringer, in Latein. Der arme Teufel ist nie dahintergekommen.«
    »Abgemacht, abgemacht –« bedeutete er mir lässig. »Fray Joaquin, holt Feder und Papier.« Als sein schwarzer Schatten im Umhang davonwieselte, spürte ich den Blick des Grafen auf mir, als wollte er in mein Innerstes schauen. Ein gruseliges Gefühl, so als zöge er mich in Gedanken nackt aus. Kein Laut, außer den Atemzügen der Menschen, war im Raum zu hören. Und dann, in dieser gräßlichen Stille, spürte ich es. Tief in meinem Schoß rührte sich etwas zum ersten Mal. Nein, ich täuschte mich nicht. Das Kind bewegte sich. Genüßlich, wonnevoll, wie ein Schwimmer zur Sommerszeit.
    Wie kannst du in diesem Augenblick nur so fröhlich sein? fragte ich es bei mir.
    »Jauchz«, antwortete es und kugelte sich noch einmal. Jauchz, dachte ich und konnte das tanzende Licht vor meinem inneren Auge sehen.
    »Jauchz«, wiederholte das Kleine und drehte sich erneut. Im Hintergrund monotones Gerede. Monotones Französisch und Schreibgeräusche.
    Hast du keine Angst vor dem Tod? Womöglich sterben wir, sagte ich zu ihm.
    »Jauchz, jauchz«, sagte das Kleine und kugelte sich.
    Du dummes Ding, hast du denn keinen Funken Verstand? schimpfte ich.
    Jemand rüttelte mich am Arm.
    »Ihr Brief, Madame, da ist er«, sagte Fray Joaquin.
    »Gebt her. Ich muß ihn lesen.«
    »Da liegt er, Madame«, sagte der Graf und zeigte auf das Papier auf dem Spieltisch. Er hatte den Kopf zurückgeworfen, daß sich sein Doppelkinn vorwölbte, und trug die fleischige, breite Nase hoch. In seinen Nasenlöchern wuchsen borstige, schwarze Haare. Oh, häßlich, dachte ich und erschauerte, denn es durchfuhr mich kalt.
    »Ohne Siegel ist er wertlos, wie Ihr wißt«, setzte er hinzu. »Ich siegele ihn und gebe Euch diesen Ring nach – unserer privaten Abmachung heute nacht. Ihr versteht? Wenn ich mich zurückziehe, erwarte ich Euch dort –«
    Ich hielt es nicht länger aus. Ich stopfte mir das Papier vorn ins Kleid und drängte mich weinend durch das Gewühl.
    »Gut – der Anfang ist gemacht«, hörte ich ihn sagen, während ich entfloh. Auf dem Flur schallte rauhes Gelächter hinter mir her.

Kapitel 10
    B ruder Malachi beugte sich über die siedende Masse aus geschmolzenem Metall und hielt den Atem an, da aus dem Schmelztiegel scheußliche Dämpfe emporwallten. Der Feuerschein bestrahlte sein Gesicht und machte, daß es ganz rötlich aussah; Schweiß lief ihm in Bächen über die Stirn und rann ihm gleichsam wie Tränen über die Wangen. Er trug eine große Lederschürze, damit ihm das Gewand nicht in Flammen aufging. Dicke Handschuhe schützten seine Hände und Unterarme bis zu den Ellenbogen. Seine linke Hand hielt den jetzt geöffneten Lederbeutel mit dem Roten Pulver, seine rechte den schwarzen, eisernen Rührstab.
    »Fast soweit«, sagte er und zog den Kopf aus der starken Hitze.
    »Schwefel. Ihr habt noch keinen Schwefel beigemischt. Nach Villanova muß man das zu Beginn eines jeden Prozesses tun.« Im tanzenden Licht des Infernos glühten Messer Guglielmos Augen unnatürlich.
    »Lullus jedoch sagt, daß es erst jetzt geschehen darf. Es sei denn, Ihr haltet so wenig von Lullus wie von Magister Salernus, denn der sagt, daß der Prozeß nur bei Vollmond durchgeführt werden darf, wenn man eine zufriedenstellende Augmentation erreichen will.«
    »Und wo, mit Verlaub, sagt er das?« Messer Guglielmos Stimme triefte vor Hohn.
    »Glaubt Ihr etwa, er würde ein solches Geheimnis preisgeben? Es befindet sich im siebten Bild auf der einundzwanzigsten Seite. Er hat es im Vielfachen der Sieben verschlüsselt. Dort steht ganz eindeutig der Pfau unter einem Vollmond. Gleich hinter dem grünen Löwen.«
    »Nicht in meiner Kopie, dort nicht.«
    »Dann ist Eure falsch. Habt Ihr den Fehler auf der Seite bemerkt, wo die Taube herunterstößt?«
    »Gut, das mag sein – aber Vollmond bedeutet, daß Silber mit im Spiel ist, wohingegen eine Durchführung des Verfahrens bei Vollmond nach meiner Verschlüsselungsmethode als schwangere Königin

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