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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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hast?« zwitscherte das Stimmchen. Glück? Das Kleid hier gehört auf der Stelle ins Feuer.
    »In der Ecke. Da –« sagte er, und in seiner Stimme lag furchtbares Entsetzen.
    Und ein Bad. Ich werde ein richtiges Bad brauchen. Ich kroch von der Tür fort. Mein Haar hatte sich vollkommen gelöst, und meine Kleider hingen mir in Fetzen vom Leib. Ich tastete mich ab. Blaue Flecke hier und da, doch im großen und ganzen heil und unversehrt. Wirklich nichts passiert. Das Kleine fing schon wieder an sich zu kugeln. Es geht uns beiden gut, dachte ich. Das hat etwas zu bedeuten. »Jauchz«, sang das Kind und rollte und kugelte sich. Du närrisches, kleines Ding, sagte ich bei mir zu ihm. Merkst du denn nie, wenn du in der Klemme sitzt? Und wir sind bei weitem noch nicht wieder heraus. Doch auf einmal liebte ich es so ungestüm, daß diese Liebe mich völlig in Anspruch nahm.
    Der Graf stieß einen gräßlichen Schrei aus. Was um alles in der Welt war mit ihm los? Warum streckte Gott ihn nicht einfach mit einem Blitz nieder, und Schluß, aus? Man sollte meinen, Er wüßte, wie man das macht.
    Und dann sah ich es in der Ecke stehen. Ein Kind. Ein hübsches, blondes Mädchen stand da, als ob es leibte und lebte und zeigte anklagend auf ihn. Es hatte nichts an und keine Augen mehr, und in seiner kleinen Brust klaffte ein Loch, wo einst das Herz gesessen hatte.
    »Ich war es nicht«, sagte der Graf. »Ich mußte es tun – man hat mich dazu gezwungen.« Zu dem Mädchen gesellte sich ein anderes Kind, ein kleiner Junge und gleichermaßen verstümmelt, und dann noch einer mit dem zerschmetterten Kopf unter dem Arm. »Ich war es nicht, es war Fray Joaquin, den wollt ihr haben. Er war es. Er hat mir gezeigt wie, und als ich erst Asmodeus beschworen hatte, da wollte der mehr und mehr. Versteht ihr? Ich bin nicht schuld, ich nicht. Man hat mich dazu gezwungen –«
    Jetzt kauerte er am Boden und wich vor den kleinen, wimmelnden Gestalten in der Ecke zurück, deren Zahl kein Ende zu nehmen schien. Er machte den Versuch eines einschmeichelnden Lächelns, doch sein Mund verzerrte sich nur grotesk, und in seinen Augen stand nacktes Entsetzen. Aber die kleinen Wesen reagierten einfach nicht. Oh, sogar jetzt noch stockt mir die Feder, so gräßlich war es. Eines nach dem anderen drängten sich die stummen Gespenster ins Zimmer und um ihn herum, totenstill waren sie und wiesen auf ihn, derweil er mit Ausflüchten, nichts als Ausflüchten durchs Zimmer kroch …
    Nun schrie und gurgelte er. »Nicht mich, nicht mich!« kreischte er, kam hoch und stürzte zur Tür, wollte entfliehen. Doch eine grimmige, pfeifende Wolke, gleichsam eine Gewitterwolke, eine brodelnde Masse Gift, versperrte ihm den Weg. Seine Augen rollten wie die eines scheuenden Pferdes, dann versuchte er, sich durch sie hindurchzustürzen.
    »Worauf wartet ihr noch, meine Kleinen?« Aus der gewittrigen Masse kam die grimmige Stimme einer Frau. »Vernichtet ihn, jetzt. Er war es.« Mich schauderte, und der Atem stockte mir, während ich zu der tobenden, wölkenden Masse aufblickte. Es war die Weiße Dame!
    »Zu mir, zu mir!« schrie der Graf, und als es daraufhin an der Tür hämmerte und krachte, verschwand ich eiligst unter dem Bett. Ich konnte wildes Gepfeif hören und so etwas wie ein Klappern im ganzen Raum, und dann ging der Graf krachend zu Boden, so als hätten ihn unsichtbare Hände angegriffen. Ich sah die Stiefel seiner Wachen und Hände, die versuchten, ihn aufzuheben, während er sich wand und ihnen entkommen wollte, als hätte ihn eine unsichtbare Macht in ihrer Gewalt. Ich sah, wie er sich auf dem Fußboden wälzte und so dicht bei meinem Versteck aufschrie, daß ich die Hand ausstrecken und ihn fast hätte berühren können. Dabei war eines äußerst merkwürdig, sein nackter Leib wies tausend und abertausend winzige rote Stellen auf, genauso als hätten ihn kleine Kinder gebissen …
    »So helft mir doch, verjagt sie!« kreischte er, und dann hörte ich ihn zum Fenster rasen, einen langgezogenen, gräßlichen Schrei, dem ein dumpfer Aufschlag auf den Felsen unten folgte. Flüche und Fußgetrappel, während die Männer zur Tür hinaus und zu den Felsen unterhalb des Fensters rannten.
    »Gut gemacht, meine Kleinen«, seufzte die sich rasch auflösende Wolke und wehte durchs Zimmer. Ich steckte den Kopf unter dem Bett hervor, und da hörte ich ein grimmiges Flüstern in meinem Ohr.
    »Ich habe festgestellt, daß es Schlimmeres gibt, als unter seinem Stand zu

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