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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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schrumpfen, und an seiner Stelle war da eine formlose Masse, die nach Schwefel, vermischt mit dem süßlichen Fliederduft, stank. Die Welt schien zu verblassen, und da sah ich es ganz klar und deutlich unter der gewöhnlichen Oberfläche des menschlichen Fleisches. Das Böse. Die Inkarnation des Bösen. Die Besucher des Rittersaals ließen sich nicht träumen, was sich hinter der alltäglichen, glänzenden, schurkischen Fassade verbarg. Sie sahen nur die Oberfläche – die Fahnen, die vergoldeten, gebratenen Pfauen, das fürstliche Leben – und wenn sie weltläufig waren, so nahmen sie vermutlich an, daß er ein, zwei geheime, kleine Laster hatte. Doch welcher hohe Herr hatte die schließlich nicht? Wer aber, wer auf der ganzen Welt, ahnte auch nur das Unsägliche, das sich unter dem albernen, gespreizten Gehabe dieses bösen Menschen verbarg? Und jetzt wußte ich auch, daß der Graf nicht auf Liebe aus war, nicht einmal auf das schäbige Zerrbild von Liebe. Er wollte meine Seele und mein Leben. Meine, Gregorys, Malachis, jedermanns Seele. Seine eigene hatte er schon lange nicht mehr, falls er überhaupt einmal eine gehabt hatte, und er würde nicht ruhen und rasten, bis er allen, die in seine Reichweite kamen, die ihre ausgesaugt hatte.
    »Ah, Ihr habt den Wein getrunken. Gut.« Und zu meiner Überraschung schenkte er den Rest aus dem Krug in den Pokal und stürzte ihn auf einen Zug hinunter.
    »Genug der Poesie. Ist Euch schon heiß? Nein. Ein wenig warm im Gesicht vielleicht?«
    »Was um alles in der Welt war in dem Wein?« fragte ich und stand erschrocken auf.
    »Genug spanische Fliege, um einen ganzen Zwinger voller Hündinnen in Hitze zu bringen. Kommt her.« Das also war es! Das Zeug hatte ich im Haus meines Schwiegervaters gesehen. Der gebrauchte es zum Züchten von Jagdhunden. Flink wie ein Reh lief ich hinter das Bett. Unbeholfen setzte er mir nach, war aber trotzdem noch schneller als ich. Ich machte einen Satz über das Bett – er hinter mir her. Ich riß den Kandelaber vom Tisch und hielt ihm die brennenden Kerzen entgegen.
    »Weiche, Satanas, sonst stecke ich dich in Brand!« schrie ich.
    Er lachte und schlug mir das Ding mit einem einzigen Hieb seiner Pranke aus der Hand. Die Kerzen zischten und verloschen, als er den Leuchter in die Ecke stieß.
    »Noch – immer – nicht – heiß?« keuchte er. Sein Gesicht war ganz rot angelaufen. Er stolperte, und ich witschte an ihm vorbei und sauste um das Bett herum zum Fenster.
    »Wollt Ihr etwa springen?« Sein Atem kam stoßweise – in allzu heftigen Stößen. Das Zeug, das er getrunken hatte, wirkte bereits. Die Nachtmütze saß ihm schief auf dem Kopf. Ich kletterte aufs Fensterbrett.
    »Dazu fehlt Euch der Mut«, frohlockte er hämisch und beugte sich vornüber, um Luft zu holen. Ich blickte nach unten. Es schien Meilen um Meilen ins Dunkel hinabzugehen, und unten nur scharfe Felszacken. Die helle Angst ergriff von mir Besitz. Ich muß es tun. Ich muß es tun, dachte ich. Mein Hirn raste. Doch der Blick nach unten hatte mich um meinen Vorsprung gebracht. Er schnappte meinen Fuß und zog, und ich schlug hart auf dem Fußboden auf, prellte mich und schrie. Ich trat nach ihm und zerkratzte ihn mit den Fingernägeln und kreischte fürchterlich, als er mich hochhob und aufs Bett warf.
    »Hübsch –« keuchte er. »So habe ich sie gern –« doch er konnte kaum noch sprechen. Sein ganzer Leib war rot und fleckig. Laß ihn sterben, lieber Gott, laß ihn ersticken und an dem verdammten Zeug krepieren, betete ich. Er hielt inne, beugte sich atemlos vornüber und erbrach sich, und ich dachte schon, daß mein Gebet erhört worden wäre. Ich sprang vom Bett und wollte rasch die Tür entriegeln, doch er warf sich auf mich wie ein wildes Tier. Er merkte nicht einmal mehr, daß ich mit dem Türgriff auf ihn eindrosch, als er an meinen Kleidern riß.
    Aber er wurde langsamer. Ich spürte, wie sein Atem in großen Stößen ging wie ein Blasebalg, während er mich zu Boden drückte. Er stank nach Flieder und Erbrochenem, doch dann rollte er sich auf einmal von mir herunter, krümmte sich und gab zuckend das Teufelsgebräu von sich, das er getrunken hatte.
    »Der schafft es nicht mehr«, sang die Stimme in mir. Hinterher brauche ich ein neues Kleid, dachte ich. Er hob den häßlichen Kopf und starrte in die Ecke. Auf einmal schien er wie gelähmt, sein Kopf wie gefroren, und seine Augen glotzten ins Dunkel. »Du kommst hier heraus, Margaret. Also, wenn du kein Glück

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