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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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heruntergelassen, und wir hörten den Hornstoß leise in den Bergen widerhallen, während die Gesellschaft durch die geöffneten Tore ritt.
    »Was murmelst du vor dich hin, Margaret?« fragte Bruder Malachi.
    »Ich bete, daß die Gräfin Glück hat«, erwiderte ich.
    Als die Gesellschaft des Bischofs wohlbehalten in der Burg war, machten wir uns wieder auf den Weg und stießen bald auf die Hauptstraße nach Bayonne, die sich unterhalb von Médard-en-bas dahinschlängelte. Dort wurden wir endlich den Führer der Gräfin los, und Malachi verhandelte mit einem alten Mann, daß er uns in entgegengesetzter Richtung durch die Berge führe. Wir machten uns also auf gewundenen Pfaden durch das Gebirge auf, da wir die Hauptstraße nach Pau erreichen wollten. Doch als wir uns erst zwischen hohen Felsen und windumtosten Gipfeln bewegten, wurde Gregory, der vorher bewußtlos gewesen war, durch das Gerüttel wach und machte große, glasige Augen, so als wüßte er nicht, wo er war. Hoch oben kreiste ein Falke, und ich merkte, daß sein Blick ihm folgte. Seine Lippen bewegten sich; ich konnte sehen, was er sagte, obwohl ich ihn nicht hören konnte, nicht einmal so dicht hinter ihm.
    »Der Himmel. Ich habe gedacht, ich würde ihn nie wieder zu sehen bekommen. Wo bin ich?«
    »Wo du bist?« wiederholte ich seine Frage laut. »Auf dem Heimweg.« Mein Herz tat einen Sprung, und ich war so glücklich, daß ich das Kleine kaum singen hörte: »Jauchz, Jauchz!« Und dann überkugelte es sich.

    Wogende, dunkle Wolken ballten sich am weiten Horizont zusammen, und ein kalter Windstoß drückte die graubraunen Reste des sommerlichen Grases zu beiden Seiten der Straße zu Boden. Tagelang hatten sie sich nun schon auf gefahrvollen Bergpfaden entlanggeschlängelt, waren durch namenlose Dörfer geritten, in denen Wilde lebten, die ihnen nur dann Essen und Unterkunft gewährten, wenn Sir Hugo drohend mit dem Schwert in der Scheide rasselte. Und selbst jetzt, auf der Hauptstraße, war sich Margaret nie weiter fort von daheim vorgekommen. Nicht einmal das fröhliche Gekugele des Kleinen und Bruder Malachis heiteres Geplauder konnten sie davon überzeugen, daß doch noch alles gut würde. Aber je länger sie unterwegs waren, desto frohgemuter wurde Hugo. Er richtete sich im Sattel auf, daß sein Umhang ihn umflatterte, und hielt dem ersten eisigen Regentropfen die Hand entgegen. Vor ihnen erstreckten sich bis zum Horizont hin die hügeligen Ausläufer der Pyrenäen wie Wogen eines weiten, stürmischen Meeres.
    »Hm. Sieht mir nach Gewitter aus. Aber mit ein bißchen Glück sind wir vorher in Pau.« Und er bedeutete denen, die hinten ritten, sich nach besten Kräften zu sputen. »Ei, ei. Wenn es doch Sommer wäre. Natürlich kein zu heißer Sommer. Also, wie ging noch dieses hübsche Sommergedicht? Humta, humta, hum-tata oder so, bekränzte Knaben sind wieder da, die Vögel im Baum singen ›tirila‹! So ähnlich jedenfalls. Witzige Reime hatte der Kerl drauf.«
    Bei dem schnelleren Tempo war Gregory wachgeworden. Aus der Sänfte kam ein Stöhnen. Hugo fiel zurück, beugte sich vom Pferd, denn nun machte er sich auch Sorgen. Er bemühte sich, die kaum verständlichen Worte aufzufangen.
    »Wenn du in meiner Gegenwart auch nur noch ein Wort dieser elenden ›Ode an den Sommer‹ zitierst, erwürge ich dich, Hugo, Ehrenwort. Lebendig oder tot. Wenn nötig, steige ich aus dem Grab.«
    »Was ist daran falsch? Ich dachte immer, du magst Gedichte, Gilbert?«
    »Dieses Gedicht ist mein wunder Punkt, Hugo. Erwähne es nie wieder. Denk daran, noch aus dem Grab.« Unter den Decken bewegte sich etwas, denn Gilbert faßte sich nach der Brust, um den schmerzhaften Husten zu unterdrücken. Hugo scherte sich überhaupt nicht darum. So war das mit Kranken. Hatte sein Vater nicht den ganzen Weg von Calais bis nach Brokesford Manor Verwünschungen geflüstert, und was hatte es genützt?
    »Ei, seht nur, ich glaube, vor uns liegt Pau«, rief Hugo und trabte wieder an, um zu prüfen, ob er in der verhangenen Ferne wirklich die Kirchtürme von Pau erspäht hatte.

    Wir blieben nur eine Nacht in der schäbigen Herberge namens La Couronne , denn die Betten wimmelten von Wanzen. An dem langen Tisch vor dem Feuer beredeten Malachi und Robert zwischen Bissen eines stinkenden Ragouts laut unsere Pläne, gen Westen auf Orthez und zur Küste hin zu ziehen. Doch noch vor dem Morgengrauen standen wir auf und ritten bei Sternenschein gen Osten auf Tarbes, nur damit uns das

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