Die Vision
Erdbeeren«, rief ich. »Mein Gott, wo hat sie die um diese Jahreszeit nur her? Ich könnte den ganzen Korb voll aufessen. Ich muß welche haben.«
»Zuerst Knoblauch, dann junger Löwenzahn, wo soll das noch hinführen. Ach, diese Frauen mit ihren ewigen Wünschen! Margaret, du mußt deine irre Eßlust bezähmen, sonst bekommt dein Kleines ein Geburtsmal.«
»Malachi«, Mutter Hilde zupfte ihn am Ärmel. »Ich möchte auch welche. Es ist so lange her –« Und während wir im Schatten des kühlen Steinbogens einer langen Arkade warteten, setzte Bruder Malachi der Frau nach und kehrte völlig außer Atem mit dem ganzen Korb zurück.
»Hoffentlich stellt das die gierigen Damen zufrieden; wir werden uns noch überall Erdbeerflecke machen.«
Doch schon bald hatte er uns, Erdbeeren hin, Erdbeeren her, in die Straße der Gelehrten geführt, wo sich der Laden eines der zahlreichen Literaturvermittlers aus Avignon befand. Dieser wäre der beste und größte, so erklärte er uns. Der Besitzer hatte sein eigenes Skriptorium und lieh auch Bücher an die Magister der Universität aus, bot desgleichen aber schöne Kopien aller neuen und gelehrten Werke an, neu wie auch aus zweiter Hand gefertigte. Die Anwesenheit des Papstes hatte Avignon zur gelehrtesten Stadt der Christenheit gemacht, wo es von Illuminatoren, Malern und Meistern der Schönschrift aller Arten nur so wimmelte. Wir kamen an Reihen von Schreibtischen für die ganztags arbeitenden Kopisten des Skriptoriums vorbei, an Auslagen mit Federn und Papier und blieben vor den breiten, schräg geneigten Borden stehen, auf denen die fertigen Bücher flach auslagen. Der Mann hier ging kein Risiko ein; er hatte seine Kostbarkeiten an die Borde gekettet. Viele waren ohnedies für mich zu breit und zu schwer zum Aufheben, einige gar märchenhaft gebunden und verziert. Zu teuer, dachte ich, und suchte nach bescheideneren. Der Besitzer, der an dem Korb mit den Erdbeeren erkannt hatte, daß wir keine sehr ehrbaren Bürger waren, schlich um uns herum.
»Ihr wünscht?« fragte er Bruder Malachi in Latein. Er hatte dunkles, kurz geschnittenes Haar, eine Gelehrtentonsur und ein langes, ausdrucksvolles, olivfarbenes Gesicht.
»Ich will ein Buch kaufen«, wandte ich mich im Französisch des Nordens an ihn. Er wechselte zu dieser Sprache, richtete sich jedoch an Bruder Malachi.
»Ihr wollt ein Buch kaufen?«
»Sie will ein Buch kaufen«, gab Bruder Malachi zurück. »Ich helfe ihr nur dabei.«
»Das Buch soll ein Geschenk sein«, sagte ich.
»Das Buch soll ein Geschenk sein?« fragte der Mann Bruder Malachi, als wäre er ein Übersetzer und als müßten die Worte von Frauen erst entschlüsselt werden, ehe ein anderer Mann sie verstehen konnte. Ich musterte die Bücher. Die dickeren, selbst die schlicht gebundenen, wirkten zu teuer. Ich würde es mit den dünnen versuchen, die abgegriffen aussahen. Das erste war in Latein.
»Das ist eine theologische Abhandlung über die Verdammnis, Margaret«, sagte Bruder Malachi auf Englisch. »Ich könnte mir denken, daß ihm die nicht zusagt.« Ich betrachtete ein anderes Buch. Der schlichte Kalbslederband sah abgewetzt aus. Die Zeilen waren kurz, es schien sich um Gedichte zu handeln. Latein war es jedoch nicht.
»Sind das hier Gedichte?« fragte ich. Es war das dünnste Buch von allen. Vielleicht von einem Rittergut verkauft oder von einem Studenten, der Geld für die Heimfahrt brauchte. Da war vielleicht ein gutes Geschäft zu machen. Außerdem mochte Gregory Gedichte, früher jedenfalls.
Der Mann überschüttete Bruder Malachi mit einem Wortschwall in Latein. Er fuchtelte mit den Armen. Er verdrehte die Augen.
»Margaret, der Mann sagt, das hier ist ein Werk des göttlichen Petrarca, den er persönlich gekannt hat. Er selber bezeichnet sich als leidenschaftlichen Musenjünger und will in seinen eigenen Gedichten die zartesten, leidenschaftlichsten Gefühle eingefangen haben, Gedichte, zu denen ihn der große Petrarca selbst ermutigt und angeregt hat, denn einst saß er zu dessen Füßen. Er sagt, wenn du Petrarcas Sonette magst, wirst du seine himmlisch finden, und die bekommst du noch billiger.« Bruder Malachi redete im Französisch des Nordens, damit alle Parteien des Handels mitbekamen, was er sagte.
»Fragt ihn«, gab ich in ebendieser Sprache zurück, »wie lange genau er zu Füßen dieses Petrarca gesessen hat.« Der Mann hörte zwar alles, doch Bruder Malachi mußte ihm die Worte einer Frau schon wieder übersetzen. Am Ende
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