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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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antwortete der Mann Bruder Malachi unter heftigem Armgefuchtel.
    »Ich habe ihn verfolgt. Und wie das scheue Damwild ist er verschwunden. Aus seiner Herberge, aus dem Kreise seiner Anbeter hat er sich durch die Hintertür davongemacht. ›Meine Gedichte!‹ rief ich ihm nach, als er sich um Mitternacht heimlich aus dem Hinterfenster schwang. ›Ihr müßt sie noch lesen! Sagt an, großer Meister, sollte ich weitermachen?‹ ›Weitermachen!‹ rief er und entfloh hoch zu Roß. Und so habe ich weitergemacht. Bald hatte ich mehrere, dünne Bände zusammen. Meine Liebesgedichte. Meine Oden. Mein Epos über die Eroberung Konstantinopels. Und ich wußte, wo ich ihn finden konnte. Er hielt sich im Vaucluse verborgen. Ich machte eine Wallfahrt zu seinem Heiligtum. Welch göttliche Schlichtheit! Wie die alten Römer! Er wohnte allein mit einem Hund. Ich klopfte an die Tür. ›Mein Gott, nicht schon wieder Ihr!‹ rief er. Da wußte ich, daß der Schein meiner aufgehenden Sonne ihn über alle Maßen blendete. ›Meine Gedichte!‹ rief ich. ›Lest meine Gedichte. Ihr müßt mir sagen, was Ihr davon haltet!‹ Er mußte sie lesen, doch ich merkte, wie es ihn schmerzte, daß ich ihn übertroffen hatte. ›Diese Liebesgedichte‹, gab er widerstrebend zu, ›sind – einzigartig.‹ ›Meine Oden?‹ fragte ich. ›Noch einzigartiger.‹ Ah! Selbst der hehrste Geist muß mit der Schlange des Neides ringen. Aber er, der große Mann, das Genie, er obsiegte! ›Und mein Epos?‹ fragte ich. »Einzigartiger geht es nicht.‹ ›Gott segne Euch, Gott segne Euch, Maestro!‹ Ich küßte ihm Hände und Füße. Ich machte mich verzückt von dannen und nahm meine Gedichte mit, damit er mir nicht meine Ideen stahl.«
    »Wie kann man zu jemandes Füßen sitzen, der am Laufen ist, Malachi?« fragte ich in Englisch.
    »Komm, Margaret. Werde nicht keck«, gab Bruder Malachi in derselben Sprache zurück.
    »Fragt ihn, Bruder Malachi«, fuhr ich auf Französisch fort, »ob er mit diesem altmodischen Kerl nicht ein gutes Geschäft machen möchte, da er selber ihn übertroffen hat – eigentlich dürfte er, sagen wir, weniger als sein eigenes Buch kosten, welches um so vieles besser ist.«
    »Margaret –« mahnte Bruder Malachi, »du gehst zu weit.«
    Der Mann verdrehte die Augen gen Himmel, und es standen Tränen darin. »Macht ihr klar«, sagte er, »daß mich nichts schlimmer trifft als die Tatsache, daß meine Gedichte keine weltweite Verbreitung finden. Wenn ich mich nicht selber bemühen müßte, ihnen Weltgeltung zu verschaffen, ich würde sie wohl kaum mit einem Nachlaß an Fremde verscherbeln.«
    »Übermittelt ihm«, sagte ich und betupfte mir dabei gekonnt die Augen mit dem Ärmel, »daß mein armer Mann so krank daniederliegt, daß ihn nur noch die Poesie zu trösten vermag, er aber so schwach ist, daß er an seinen Gefühlen dahinscheiden könnte, falls er die machtvolleren Gedichte zuerst liest. Wenn er jedoch mit den schwächeren Versen beginnt, kann er so an Kräften zunehmen, daß er das größere Werk gefahrlos lesen kann. Also sollte er mir den Petrarca für weniger lassen, damit ich später wiederkommen und mir sein eigenes Werk holen kann.«
    »Bedeutet ihr, sie bekommt es zum gleichen Preis, nicht mehr, nicht weniger.« Natürlich ließ ich Bruder Malachi keine Zeit, irgend jemandem irgend etwas zu bedeuten.
    »Abgemacht«, sagte ich. Und der Mann sagte zu Bruder Malachi: »Erklärt ihr, daß ich ein Narr bin und daß meine kleinen Kinder Hungers sterben müssen.«
    »Übermittelt ihm, daß die kleinen Kinder einer hehren Seele nie Hungers sterben müssen.«
    »Hilde, Margaret«, wandte sich Bruder Malachi mit strahlendem Gesicht an uns. »Eben bin ich darauf gekommen, wie wir nach Hause gelangen können.«

    Anfangs war Sim fest entschlossen, sich nicht vom Fleck zu rühren. Zwar war es nicht zum Aushalten, welches Aufhebens Margaret von diesem nutzlosen Kerl machte, aber er hatte es ihr nun einmal versprochen. Wochenlang hatte der Kerl, dieser unsägliche Langweiler, der kaum mehr tat als atmen, nur so herumgelegen. In manchen Nächten schreckte er mit weit aufgerissenen Augen hoch und kreischte, als sähe er Gräßliches; dann war er zumindest noch interessant, wenn auch etwas gefährlich, da er um sich schlagen konnte, sich Dinge vom Leibe halten wollte und sich dabei blutig kratzte. Aber wach war er einfach unausstehlich. Eine wahre Gewitterwolke, der Kerl. Nicht einmal Sims schöne Neuerwerbungen heiterten ihn auf,

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