Die Vision
dergleichen macht Ihr nicht.« Seine Finger beschäftigten sich mit Sims ungeschickten Knoten.
»Ich bin nicht bei Trost gewesen«, sagte Gregory. »Aber ich habe doch niemandem etwas getan, oder?« Der Fremde war fertig, ergriff Gregorys Handgelenk und fühlte ihm den Puls.
»Nicht wirklich«, sagte er. »Noch nicht.«
»Das ist aber eine häßliche Narbe da auf Eurer Hand. Daran bin doch nicht ich schuld, oder?«
»Nun ja, sozusagen doch. Aber das zählt im Augenblick nicht.«
»Tut mir sehr leid. Wart Ihr schon früher hier?«
»Die ganze Zeit.«
»Dann bin ich wirklich nicht ganz bei Trost gewesen, nicht wahr – ich kann mich nämlich überhaupt nicht an Euch erinnern.«
Der Arzt seufzte. »Damit steht Ihr nicht allein da. So geht es den meisten Menschen.«
»Auch das tut mir sehr leid. Eure Geschäfte gehen hier wohl nicht sehr gut? Nur nicht verzagen! Dergleichen habe ich auch schon durchgemacht. Überall gern gesehen, wenn es etwas zu feiern gab, aber keine richtige Arbeit. Nicht einmal mein Vater mochte mich.«
»Ach, da kann ich auch mitreden. Aber in dieser Stadt bin ich besonders schlecht gefahren, und dabei habe ich das Geschäft meines Vaters übernommen.«
Gregory fühlte sich schon viel besser. Er setzte sich auf.
»Hier gibt es nämlich nur Quacksalber. Die Menschen mögen viel Brimborium. Von den Ärzten erwarten sie, daß sie sich in Latein über Urin in einem Glasgefäß auslassen und ekelhafte, teure Arzneien verschreiben, die den Leib vergiften oder einem Schmerzen zufügen wie Schröpfen und zur Ader lassen.«
»Wollt Ihr mir sagen, wie ich mein Geschäft betreiben soll?« Der Arzt verzog keine Miene, aber in seinen Augen funkelte es belustigt.
»O nein, so war es ganz und gar nicht gemeint. Aber ein ehrlicher Arzt wie Ihr, der ohne Tricks arbeitet – merkt Ihr beispielsweise, wieviel besser ich mich bereits fühle, und Ihr habt mich noch nicht einmal zur Ader gelassen – nun ja, Ihr werdet nicht viel zahlende Patienten bekommen, wenn Ihr mit den – ah – Blendern wetteifert. Ihr werdet Euch demütigen und den Abschaum umsonst behandeln müssen.«
»Ach, wirklich, den Abschaum – so wie Euch?«
»Richtig, so wie mich.« Gregorys Miene zeigte einen Anflug von Trauer. Doch dann beugte er sich vor. »Sagt mir, wie hat sie Euch dazu gebracht, daß Ihr gekommen seid? Ihr wißt doch, daß wir Euch nicht bezahlen können.«
»O doch, Ihr könnt zahlen. Erzählt Margaret einfach, daß Ihr sie liebt. Ich möchte ihr Gesicht sehen, wenn Ihr das sagt.«
»Es geht nicht. Außerdem weiß sie, was ich für sie fühle. Das muß ich ihr nicht ausdrücklich sagen.«
»Warum könnt Ihr es ihr nicht sagen?«
»Weil es falsch ist, ganz falsch. Ich hätte sie einfach nicht heiraten dürfen. Ich – ich hatte nämlich eine Berufung.« Gregory klang verlegen.
»Ach, wirklich, eine Berufung? Wie geartet?«
»Von der richtigen Art. Ich wollte Gott dienen.«
»Aha. Andere Berufungen dienen Gott also nicht. Und wenn Ihr Gott dient, dann könnt Ihr nichts lieben, was Er geschaffen hat. Und um Gott zu beweisen, daß Ihr Ihn immer noch liebt, wollt Ihr Margaret nicht sagen, daß Ihr sie liebt, obwohl es so ist.«
»So formuliert klingt es wohl ziemlich wirr und engstirnig.«
»Das habt Ihr gesagt.«
Während Gregory darüber nachdachte, wurde seine Miene besorgt. »Aber wenn sie mich nun verläßt – fortgeht oder – oder stirbt? Darum sollten die Menschen ihr Herz nicht an Weltliches hängen, sondern nur – nun ja, Unvergängliches wie Gott lieben«, sagte Gregory.
»Sagt«, meinte der Arzt, »ist Euch schon aufgefallen, wie Margaret liebt?«
»Wie sie – was meint Ihr damit?«
»Wie sie ihr Herz in die Waagschale wirft, ohne an die Kosten zu denken? Glaubt Ihr etwa, sie weiß nicht genau, daß ein Kinderlächeln oder ein Menschenleben das Vergänglichste auf dieser Erde ist? Wer, meint Ihr wohl, hat sie so lieben gelehrt?«
Gregory schwieg lange Zeit. Der Arzt sah ihm beim Nachdenken zu.
»Liebt Gott selber nicht auch vorbehaltlos? Selbst noch seine verirrten Schafe?« Der Arzt sah Gregory ins bekümmerte Gesicht. Gregory wandte ihm die dunklen Augen zu und blickte ihn lange und durchdringend an. »Findet Ihr es nicht auch ziemlich anmaßend, vollkommen und ohne Risiko lieben zu wollen?« Die Stimme des Fragers klang nicht unfreundlich.
»Aber mein Herz könnte Schaden nehmen«, sagte Gregory jetzt auf einmal ehrlich.
»Das tut es so auch«, gab der Arzt zurück.
Gregory ließ
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