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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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nachdenken«, sagte Bruder Malachi.
    »Natürlich«, sagte Abraham. Doch der falsche Wollhändler hatte den Band schon vorn in sein Gewand gesteckt und ging mit hängendem Kopf davon.
    »Jammerschade«, sagte Abraham der Jude. »Von der Sorte müssen Hunderte in der Welt herumschwirren, und irgendwie landen sie immer bei mir.«

    Der angebliche Wollhändler wanderte eine geraume Weile mit auf dem Rücken verschränkten Händen und gesenktem Kopf dahin, bis er aus dem Irrgarten von schmalen Gäßchen auftauchte und auf dem winzigen, gepflasterten Platz vor den mächtigen, gotischen Kirchportalen von St. Pierre stand. Durch den hohen Türbogen kam aus dem dämmrigen Innern eine Menschenmenge herausgeströmt und gedrängelt, in der er eine mollige, ältere Frau in Pilgertracht in Begleitung eines kleinen, gelangweilt aussehenden Knaben erblickte. Selbst von hinten kam ihm die Gestalt bekannt vor.
    »Hilde, Hilde, warte!« rief der Wollhändler, und sie drehte sich um. Sie war den ganzen Morgen durch die Stadt gepilgert, hatte sechs Kirchen besichtigt, dazu noch die Höhle, wo Martha, die Gastgeberin des Heilands, mit ihrer Dienerin Marcella gelebt, das Evangelium gepredigt und den Drachen mit Weihwasser besiegt hatte. Sie war immer noch ganz geblendet von all der Pracht, dem Gold und dem Weihrauch, den hohen, dämmrigen Gewölbebögen, wo Gott so offensichtlich zu wohnen schien, und der Vielzahl von Reliquien in ihren Schreinen. Kniescheiben, Fingerknöchelchen, Schädel, Stoffetzen und Gefäße mit Blut – ja, selbst noch der Gürtel, mit dem die heilige Martha den Drachen gefesselt hatte – alles rührte sie zu Tränen. Welch eine Wonne war es doch, sich die Märtyrer vorzustellen, denen sie gehört hatten; ihr Herz war voll davon, und sie mußte sich die Augen wischen. Es war ein unendlich ekstatischer Morgen gewesen, einer von den wenigen, die sie sich nach vielen Tagen des Eingesperrtseins mit Margaret gegönnt hatte.
    Als sie angerufen wurde, blickte sie auf und winkte. Dann sagte sie etwas zu dem störrischen, kleinen Jungen, und der sauste in die entgegengesetzte Richtung davon wie ein von der Armbrust abgeschossener Bolzen.
    »Hilde, man hat mich hereingelegt.« Bruder Malachi war außer Atem, als er sie eingeholt hatte. »Nicht zu fassen. Mich. Ausgerechnet mich.«
    »Das kann nicht sein, Malachi, du bist doch so ausnehmend klug.«
    »Dieses Mal nicht. Ich sage dir, dieser Thomas hat immer etwas gegen mich gehabt. Neidisch, ja, neidisch war er, weil ich weiter war als er. Der war noch nicht einmal in die Nähe des Drachen gekommen. Ich habe ihm gesagt, er sucht in der falschen Richtung, doch er hat behauptet, ich wolle nur, daß er keinen Erfolg hat, damit ich das Gold für mich behalten könnte. Ich sehe ihn so richtig vor mir, wie er lachend stirbt, nachdem er das Testament unterzeichnet hat, in dem er mir das Ding hier vermacht. ›Wenn ich es nicht haben kann, dann er auch nicht – ich schicke ihn auf eine Suche, von der er nicht zurückkommt.‹ Vermutlich kann ich noch von Glück sagen, daß er es nicht auf Ägyptisch gefälscht hat.«
    »Vielleicht ist er dein Freund gewesen, Malachi, und man hat auch ihn hereingelegt.«
    »Ihn? Wohl kaum. Habe ich dir eigentlich erzählt, wie er einmal mein Laboratorium besucht und aus seinem Ärmel irgendein Pulver in meine ganzen Versuche geschüttet hat? Alles wurde grün – sechs Monate Arbeit umsonst. Und zu allem Überfluß hat er mir noch anvertraut, daß er den Pfauenschwanz gesehen hätte, und das war erstunken und erlogen. Ich habe wochenlang Trübsal geblasen.«
    »Trübsal? Oh, Malachi, du doch nicht. Das paßt so gar nicht zu dir.«
    »Nicht seitdem ich dich gefunden habe, du meine Herzenskönigin. Wenn ich dich habe und den herrlichen Zwiebelkuchen, den keine so zuzubereiten versteht wie du, wie könnte ich da Trübsal blasen.«
    »Oh, Malachi, du bist so brillant und freundlich.« Mutter Hilde nahm den Arm des Wollhändlers, und schon schlenderten sie unter frisch belaubten Bäumen dahin. »Was für ein Glück, daß keine Frau vor mir Zwiebelkuchen für dich gebacken hat.«
    »Er wäre nicht vollkommen gewesen, Hilde. Nein, ich habe nach dem vollkommenen Zwiebelkuchen und der vollkommenen Frau gesucht. Mit wem sollte ich mein Leben sonst wohl teilen? Dennoch tut es mir sehr leid, daß ich dich auf diese vergebliche Suche mitgenommen habe.«
    »Leid, Malachi? Wo ich schon immer reisen wollte. Wie weit wäre ich ohne dich wohl gekommen? Nicht aus dem

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