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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Dorf heraus, in dem ich geboren bin. Und heute – ei, da leben wir in London! Ich bin Prinzen, Herzögen und Grafen begegnet – obwohl letzterer nicht gerade ein Gewinn war, das muß ich schon sagen. Und schau nur hier drinnen –« Sie machte ihre Pilgertasche auf. Die war voller geprägter, blecherner Pilgerabzeichen von den Heiligtümern, die sie besucht hatte. Dazu kamen Kiesel und kleine Tonfläschchen mit diesem und jenem, alle mit Wachs versiegelt. »Da, sieh nur. Wenn ich als Kind Pilger mit ihren Pilgerzeichen am Hut vorbeireiten sah, war ich immer neidisch. Die sind wenigstens irgendwo gewesen, sagte ich dann wohl bei mir. Jetzt bin ich auch irgendwo gewesen. Erstaunlich. Nach einem langen Leben, das für zwei Frauen gereicht hätte, habe ich nun noch eines. Ein Reise- und Abenteuerleben mit dem klügsten Mann der Welt. Ich begreife nicht, was dir daran leidtut.«
    Derweil sie so sprach, entspannte sich Bruder Malachis Miene. Sie wurde rosig wie gewohnt, und die Sorgenfalten glätteten sich.
    »Hilde, ich mache alles wieder gut. Wir kehren heim. Auf dieser Reise habe ich eine Menge gelernt, wenn auch nicht aus dem elendigen Buch. Mir ist da eine Idee gekommen, die muß ich in die Tat umsetzen. Warte nur. Eines Tages mache ich dich reicher, als du zu träumen wagst.«
    »Malachi«, sagte sie lächelnd über diese unentwegte Zuversicht, welche ihm den Anschein ewiger Jugend verlieh. »Das bin ich doch schon.«

Kapitel 12
    E r fühlt sich elend, Malachi, ich merke es doch.« Ich hatte mich aus dem Fenster gebeugt, um mir die Frühlingssonne aufs Gesicht scheinen zu lassen. Hierzulande setzte die Sommerhitze früh ein, und in dem Zimmer unter der Dachtraufe war es zum Ersticken. Allmählich drehte ich durch; so lange war ich nun schon eingesperrt und hatte kaum mehr zu tun gehabt, als Gregorys keuchendem Atem zu lauschen oder den seltsamen Worten, die er von sich gab, wenn sein Geist sich verwirrte. Als ich dann Malachi die Außentreppe zu unserer Dachstube hochkeuchen sah, brannte ich nur so darauf, ihm von meiner Idee zu erzählen.
    »Elend?« Selbst Malachi mußte den Kopf einziehen, als er über die Schwelle des kleinen Zimmers trat. »Du machst dir Sorgen, weil er sich elend fühlt? Er lebt! Wenn das nicht Grund zur Freude ist, dann weiß ich nicht was!« Sein Blick wanderte kurz zu der schlafenden Gestalt auf dem Bett. »Und ich zerbreche mir alleweil den Kopf, habe ernste Sorgen, weil wir beispielsweise kein Geld oder andere Mittel für die Heimfahrt haben. Fühle ich mich etwa elend? Nein! Mein Kopf brodelt nur so von Plänen. Ich beschäftige mich mit nützlichen Gedanken. Und dabei dürfte ausgerechnet ich mich elend fühlen! Mir würde es zukommen, mich elend zu fühlen und den lieben langen Tag im Bett zu liegen, damit sich alle um mich sorgen und mir Wein und Obst anbieten könnten. Mein Buch, mein wunderbarer Schatz, der mich zu dieser albernen Suche verleitet hat, ist eine wertlose Fälschung. Sag an, was sonst könnte eine empfindsame Seele wie meine noch elender machen?«
    Wenn Bruder Malachi in dieser Stimmung ist, ist mit ihm nichts anzufangen, man muß ihn einfach ablenken.
    »Bruder Malachi, ich brauche Eure Hilfe. Hilde und mir ist da eine Idee gekommen, und jetzt wollen wir einkaufen. Aber wir brauchen einen Fachmann wie Euch, der uns dabei hilft.«
    »Glaub ja nicht, daß du mich mit diesen schlauen, schmeichlerischen Worten ablenken kannst, Margaret. Woher hast du Geld, abgesehen von dem, was du mir gegeben hast?«
    »Ich habe ein paar Sachen verkauft, die ich nicht brauche.«
    »Was –?« Er musterte mich eingehend, wollte sehen, was ich abgestoßen hatte.
    »Ich will ihm ein Geschenk kaufen. Er braucht ein Buch.«
    »Margaret, dein Überwurf fehlt, doch dafür bekommt man noch kein Buch.«
    »Es ist Sommer. Wir brechen bald auf, also brauche ich ihn nicht mehr.«
    »Was sonst noch, törichtes Frauenzimmer?«
    »Die gräßliche Trauerkleidung. Ich habe sie ausgebessert und verkauft. Alle Welt braucht Trauerkleider, es ist Sommer und Pestzeit. Alle außer mir. Ich bin nicht mehr traurig. Ich habe einen guten Preis dafür bekommen – mit diesem ekelhaften Fliederduft wirkten sie vornehmer. Pu. Fliederwasser.« Unwillkürlich schauderte mich.
    »Ts, ts. Dich fröstelt, Margaret«, bemerkte Malachi. »Ich fürchte, es war ziemlich voreilig, die Kleider wegzugeben. Aber an deiner Miene sehe ich, daß es hinter meinem Rücken geschehen ist. Was hast du sonst noch verkauft?«
    »Nur die

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