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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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verstehen. Hilde und ich, wir kennen uns mit der Liebe aus, und wir möchten hören, was der Dichter dazu sagt.« Gregory las mit seiner schönen, kräftigen Stimme zunächst in den rollenden Lauten der italienischen Sprache. Dann hielt er inne und brachte das Gedicht langsam ins Englische, legte jedoch bei schwierigeren Wörtern und Sätzen eine Pause ein.

»›Trovommi Amor del tutto disarmato
    et aperta la via per gli occhi al core,
    che di lagrime son fatti uscio e varco.‹«

    Die Stimme brach ihm, und für mich klang es sehr schön, auch ehe er noch gesagt hatte, was es bedeutete. »Da Amor mich – ganz und gar bezwungen hat«, übersetzte er, und sein Gesicht sah dabei so ernst aus und strahlte vor Liebe, daß ich spürte, auch mein Herz war völlig bezwungen. »Und fand den Weg durch meine Augen ins Herz – ehem – welche nun der Tränen Tor und Tür sind.« Oh, ja. Wie ganz und gar anders. Dieser Dichter wußte alles über die Liebe.
    »Diese Laura – hat sie ihn auch geliebt?«
    »Also, nur im geistigen Sinne. Sie ist ihm im Traum erschienen.«
    »Aber sie hat ihm doch ein Liebespfand gegeben, oder?«
    »Einen Handschuh – den hat sie fallenlassen, und er hat ihn aufgehoben. Aber dann hat sie ihn wieder an sich genommen.«
    »Was – sie hat ihren Handschuh zurückgefordert, ist böse geworden, als er sie im Bad überrascht hat, und hat ihm nie mehr als ein Lächeln geschenkt – jedenfalls bildet er sich das ein, und das einundzwanzig Jahre lang? Ich finde, er hätte sich eine andere Herrin suchen sollen – eine, die ihn auch geliebt hätte.«
    »Margaret, du verstehst einfach nichts von höherer, geistiger Liebe.«
    »Höhere Liebe? Wenn mir ein Mann einundzwanzig Jahre lang nachsteigen würde, immer versuchen würde, mir auf der Straße zu begegnen, mich heimlich beim Baden sehen wollte und mir die Handschuhe oder sonst etwas stehlen wollte, was ich kurz abgelegt hätte, und ich hätte ihn nicht im geringsten ermutigt, weißt du, wie ich das nennen würde? Verliebt, ja! Er benimmt sich wie ein dummer Junge, spielt die ganze Nacht die Laute unter dem Fenster einer verheirateten Frau mit Kindern, die schon zu Bett gegangen ist.«
    »Die ideale Liebe ohne niedrige Fleischeslust – und du nennst das verliebt?« Gregory klang empört.
    »Also, wenn sie so ideal war, dann hat er vermutlich nie jemand anders geliebt?«
    »Ah – hm – er hatte in der Tat eine Geliebte und Kinder.«
    »Und die hat er nicht geliebt, sondern ist dieser Frau nachgelaufen, die ihn nicht geliebt hat? Verrückt!«
    »Du nennst den größten lebenden Dichter von heute verrückt? Du bist hoffnungslos bürgerlich!«
    »Also, meiner Meinung nach ist er verrückt, wenn er sein Leben lang einer Frau nachsteigt, die ihn nicht liebt. So benimmt sich doch kein erwachsener Mensch. Was meinst du, Mutter Hilde?«
    »Ich finde, es geht euch beiden viel besser, ihr streitet nämlich schon wieder.«
    »Streiten? Ich streite mich überhaupt nicht. Ich habe recht. Italiener sind verrückt.« Jetzt war ich sehr empört. Mutter Hilde hätte meine Partei ergreifen müssen.
    »Du willst ausweichen, Margaret. Das tust du immer, wenn du im Unrecht bist.« Gregory klang rechthaberisch. »Du willst nur nicht zugeben, daß ich recht habe.« Ich sah ihn an. Mutter Hilde hatte recht. Der Streit machte, daß seine Augen strahlten. Er hatte eine gute Farbe. Ganz der Alte mit seiner lieben, vertrauten Überheblichkeit. Natürlich hatte er ganz und gar unrecht. Haben die meisten Männer in wichtigen Dingen wie der Liebe. Ich lachte ihn aus.
    »Und jetzt lachst du. Bislang hat noch keine Frau gewagt, etwas gegen den größten Liebesdichter auf der ganzen Welt zu sagen. Und eine, möchte ich hinzufügen, die seine Werke nicht einmal lesen kann.«
    »Diese Laura – die dürfte blond gewesen sein, ja?«
    »Natürlich. So steht es hier: ›i cape d'oro fin‹ – daß heißt ›von Gold des Haares Wellen.‹
    »Na ja, das erklärt alles.«
    »Und wie das, mit Verlaub? Die Bemerkung ist durch und durch unlogisch! Frauen!«
    Wie gut, daß wir im gleichen Augenblick Schritte auf der Treppe hörten, dann wurde angeklopft.
    »Aufmachen! Aufmachen! Das Abendessen ist da, und es ist heiß!«
    »Ei, Malachi«, rief Hilde und machte die Tür weit auf. »Woher hast du soviel bekommen?«
    Da in der Tür stand Bruder Malachi und hielt einen großen, eisernen Kochtopf in der Hand, um dessen Griffe er ein Handtuch gewickelt hatte. Aus der Tiefe seines Gewandes lugte eine

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