Die Vision
den Kopf hängen.
Nach einem langen Schweigen, in dessen Verlauf Gregory heftig nachzudenken schien, fing er wieder an zu husten. Als er sich vornüberbeugte, stützte ihn der Arzt. Dann stand der Fremde auf und stöberte im Zimmer herum, als wäre es sein eigenes, bis er einen halb geleerten Krug mit Wein fand. Einen Augenblick später saß Gregory auch schon mit einem Becher in der Hand da, und der Arzt half ihm beim Trinken.
»Trinkt ein wenig, davon läßt der Husten nach.« Der Arzt war schon genauso lästig wie Margaret. Gregory hörte auf zu trinken.
»Ich hätte lieber in der Normandie sterben sollen. Das wäre besser gewesen. Ihr wißt doch, was der Dichter sagt: ›Ein Mann ist besser tot, als lebend und geschlagen.‹«
»Von welchem Dichter ist das?« fragte der Arzt und nahm ihm den Becher ab.
»Bertran de Born – einer der wenigen, die mein Vater schätzt. Aber der Husten ist besser geworden. Und was habt Ihr mit dem Teufel von vorhin gemacht? Er war zu groß, als daß er sich in diesem Zimmer verstecken könnte.« Gregory blickte sich um, doch jeder Winkel des Raumes war voller Sonnenschein.
»Ach, den bin ich losgeworden. Wie bei Teufeln so üblich, war er gar nicht so groß. Wie kommt Ihr auf die Idee, daß keiner Euch wiederhaben will? Wißt Ihr denn nicht, welche Mühsal Margaret auf sich genommen hat: Schwangere Frauen sollten zu Haus bleiben dürfen, Kinderkleider nähen und Obst essen. Und sie ist zu Fuß durchs Gebirge gewandert, hat ein Loch in Meiner Schöpfung geflickt und Euch herausgeholt, und das unter unendlichen Mühen.«
»Sie hat Flickarbeiten für Euch gemacht? So also hat sie Euch hierhergelockt. Tief sind wir gesunken! Flickarbeit in einer fremden Stadt anzunehmen! Habe ich Euch schon erzählt, wie reich sie war, als ich sie kennenlernte? Ihr seliger Mann hat ihr ein angenehmes Leben bereitet und ich nur Scherereien. Und doch hat sie nicht gezögert, sich zu erniedrigen, um die Arztgebühr zu bezahlen und Euch hierherzuholen. Es ist eine Schande. Eine Rittersfrau und Flickarbeit. Selbst wenn die Ritterwürde nur gekauft ist.« Gregory schüttelte den Kopf. Der Arzt stellte den Becher weg. »Nicht zu fassen, daß ich so hartherzig gewesen bin und ihr nicht gesagt habe, was sie hören wollte. Schließlich habe ich sie geheiratet, also bin ich der Sünder.«
Der Arzt setzte sich wieder hin und fühlte ihm noch einmal den Puls. »Viel besser«, sagte er.
»Ich bin undankbar gewesen. Ja, das bin ich«, fuhr Gregory ernst fort, so als disputierte er mit einem unsichtbaren Scholastiker, »vor allem wenn man bedenkt, was sie für mich getan hat. Wirklich ungewöhnlich, selbst wenn sie keine Frau wäre. Also, dieser Blondel, der ist in einer Ballade verewigt worden, wie er König Richard Löwenherz gerettet hat. Und niemand hat gesagt, es wäre besser, wenn König Richard tot wäre; alle waren froh, daß er wieder da war.«
Der Arzt musterte Gregory mit einem scharfen, schlauen Blick. »So ganz habt Ihr es noch nicht durchschaut, aber Ihr seid auf dem richtigen Weg. Fühlt Ihr Euch besser? Noch weitere Fragen?«
»Wohl nur noch eine. Ich habe Alpträume – Sinnestäuschungen, in denen mein Bruder Hugo vorkommt. Sie sind so echt, daß ich fast meinen möchte, er wäre hier. Ich höre entsetzliche Musik, und dann taucht sein Gesicht auf und rezitiert gräßliche Gedichte. Hat das irgendeine Bedeutung? Ist es ein schlimmes Zeichen?«
»Er ist wirklich hier. Euer Vater hat ihn hinter Euch hergeschickt, und er hat Margaret eingeholt, nachdem sie Euch schon gefunden hatte. So wie er geartet ist, bildet er sich natürlich ein, daß er Euch gerettet hat, obwohl er sich noch nicht ganz ausgedacht hat, wie. Was die Gedichte angeht, daran kann ich nichts ändern. Es steht dem Menschen frei, sich etwas zu eigen zu machen, selbst gräßliche Gedichte. Und nun, lebt wohl.«
»Hugo? Und von Vater geschickt?« Gregorys Stimme klang verwundert. »Geht noch nicht – bitte, verweilt ein wenig.«
»Ich muß mich noch um andere kümmern«, sagte der Arzt lächelnd, stand auf und hinterließ eine zerknautschte Stelle auf dem Bettlaken.
»Aber Ihr kommt doch wieder?«
»Wann immer Ihr darum bittet.«
»Muß ich noch mehr tun? Etwas einnehmen? Eklige Arznei? Klistiere? Dampfbäder? Eine scheußliche Diät?«
»Noch mehr?« Der Arzt drehte sich um, und dabei hatte er noch den Türriegel in der Hand. »Ja doch. Ich kenne da zwei einsame, kleine Mädchen, die einen Vater aus Fleisch und Blut
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