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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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macht dich gesund. Es ist ein Buch.«
    »Ein Buch?« sagte er mit einem neugierigen und freudig aufstrahlenden Blick. »Was für ein Buch?«
    »Ei, Gedichte.«
    »Gedichte?« Er sah entsetzt aus. »Gute Gedichte?«
    »Ei, die besten. Sie sind von einem Mann, einem gewissen Francesco Petrarca, der hier einmal gelebt hat. Alle hier reden noch von ihm.« Gregory blickte mich durchdringend an.
    »Petrarca? Der größte lebende Dichter auf der ganzen Welt? Sag an, Margaret, hast du das Buch gekauft, weil du gewußt hast, daß es gut ist, oder weil es sehr dünn ist und du ein gutes Geschäft gewittert hast?«
    Mutter Hilde schlug die Hände vors Gesicht, aber ich konnte sie doch noch lachen hören.
    »Woher weißt du, daß ich ein gutes Geschäft gemacht habe?«
    »Margaret, du vergißt, wie gut ich dich kenne. Du hast noch nie ein gutes Geschäft ausschlagen können. Nicht einmal mich. Weißt du noch, wie wir uns kennengelernt haben? Ich bin auch eines von deinen guten Geschäften gewesen.«
    »Ich feilsche eben sehr gut, Gregory. Ich bekomme nur das Beste. Das mußt du doch zugeben«, sagte ich und reichte ihm das Buch. Nun wischte er sich die Hände ab und nahm das Büchlein, drehte es zärtlich hin und her und betrachtete den Einband.
    »Oh, Margaret, weißt du, was du da gekauft hast?« fragte er.
    »Na ja – nicht so ganz. Ich kann kein Wort lesen. Aber Bruder Malachi sagt, du kannst es lesen. Und ich weiß doch, daß dich nichts so glücklich macht wie Bücher.«
    »Margaret, das sind Liebesgedichte. Petrarcas Sonette an seine Laura.« Er blickte auf seine Hände und errötete. Die rosige Farbe machte, daß er noch gesünder aussah.
    »Ja, Margaret, es gibt etwas, das ich dir schon seit langem sagen wollte. Ich liebe dich, Margaret. Ich habe dich immer geliebt, aber anfangs habe ich das selber nicht gewußt. Und als es mir klar war, da wußte ich nicht, wie ich es dir sagen sollte. Ich dachte, wenn ich Heldentaten vollbringe, dann weißt du es, ohne daß ich es sagen muß. Ich hatte wohl Angst, ich würde albern wirken, wenn ich es dir einfach so sagte. Oder daß du mich vielleicht nicht lieben könntest.«
    Da mußte ich einfach weinen.
    »Margaret, habe ich es nicht richtig gemacht? Ich habe dich doch nicht erzürnt, oder?«
    »O nein, Gregory, du verstehst einfach nicht. Ich habe immer gewußt, daß alles gut wird, Hauptsache, du sagst es. Und jetzt hast du es gesagt, und nun weiß ich, daß alles gut wird.« Als er das Buch auf seinen Schoß legte und sich vorbeugte, um mich in die Arme zu nehmen, da merkte ich, daß Mutter Hilde sich taktvoll verzogen hatte und aus dem Fenster sah. Ich habe, glaube ich, lange geweint und ihn ganz fest in die Arme genommen, während er mich tröstete. Er wirkte immer noch verwirrt und verblüfft.
    Am Ende sagte er sehr sanft: »Er hätte mich ruhig darauf vorbereiten können, daß dergleichen geschehen würde. Da begreife einer die Frauen.«
    »Er? Wen meinst du?« fragte ich und sah ihn an.
    »Den Arzt, den du geschickt hast, Margaret.«
    »Ich habe doch keinen Arzt geschickt, Gregory. Die sind viel zu teuer. Und in der Regel bringen sie die Menschen nur um. Warum Geld ausgeben, damit man umgebracht wird?«
    »Er hat gesagt, du hättest Flickarbeiten für ihn gemacht.«
    »Flickarbeiten? Ich und Flickarbeiten? Du mußt wieder Sinnestäuschungen gehabt haben.«
    »Komisch. Er schien mir durchaus wirklich. Ein sehr angenehmer Mensch. Überhaupt nicht hochfahrend. Aber wie sollte er auch? Noch nie habe ich einen so ärmlich wirkenden Arzt gesehen. Deshalb habe ich ja auch gedacht, daß du ihn geschickt hättest. Du weißt schon, wieder eines von deinen guten Geschäften. Ei, der ging doch barfuß wie ein Bauer, um seine Schuhe zu schonen. Einfach nicht zu fassen. Aber nachdem er mir alles erklärt hatte, ging es mir gleich besser. Er konnte allerdings nicht bleiben. Mußte noch eine Menge Besuche machen. Er war gerade aus der Tür, als ihr zurückgekommen seid.«
    »Aber wir haben wirklich niemanden die Stiege herunterkommen sehen«, sagte ich und musterte die Tür, als könnte die mir etwas erzählen.
    »Nein, keine Menschenseele«, sagte Mutter Hilde vom Fenster her.
    »Gregory, lies uns aus dem Buch vor, Hilde und mir«, sagte ich. »Wir wollen hören, wovon alle in der Stadt soviel Aufhebens machen.«
    »Wie möchtest du es haben? Soll ich es dir ins Englische übersetzen?«
    »Zuerst auf Italienisch, damit wir die Musik darin hören, und dann auf Englisch, damit wir es

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