Die Vision
guten Start wie er gehabt hätte, wer weiß, was aus mir alles hätte werden können? Also, eines davon muß morgen abend auf jeden Fall fertig sein.« Er schlenderte zum Fenster und prüfte die Seiten, die beschwert auf der Fensterbank lagen. »Hübsch«, sagte er und nickte beifällig. »Wenn ich heute abend binde – und dazu brauche ich die Hilfe von Näherinnen, meine Damen dann können wir sie morgen am Feuer bräunen. Gilbert – wer von Euch, du oder Aimery, verstand sich eigentlich aufs Buchbinden?«
Gregory pustete auf eine feuchte Stelle bei seinem Bild, dort, wo die rote Tinte auf dem Schlangenkopf nicht trocknen wollte. Er antwortete ohne aufzublicken.
»Aimery – du bringst uns durcheinander, weil der auch Sauflieder geschrieben hat.«
»Dann werde ich dir wohl zeigen müssen, wie man das macht – wir haben noch eine Menge Arbeit vor uns, wenn wir alle rechtzeitig fertig haben wollen. Übermorgen brechen wir auf. Das ist der andere Teil meiner guten Nachrichten. Eine Gruppe Kaufleute will mit Geleitschutz die Rhône hinauf gen Lyon ziehen. Sie haben sich Soldaten gemietet und sich einer päpstlichen Gesandtschaft angeschlossen, die nach Paris will. Ein neuerliches Bittgesuch an den französischen und englischen König, Frieden zu schließen. In ihrer Gesellschaft reisen wir so sicher wie in Abrahams Schoß. Die restlichen Bücher bräunen wir dann unterwegs.«
»Aber, Malachi, Schatz, warum willst du sie bräunen? Du verdirbst ja die hübschen Bilder. Die werden ja allesamt dunkel.«
»Genau, meine Herzenskönigin. Du weißt im voraus, was ich will. Wer kauft schon ein neues alchimistisches Buch? Niemand. Aber morgen wird wenigstens eines von ihnen uralt aussehen. Außerdem vertreibt die Hitze den Geruch nach frischem Leim.« Bruder Malachi rieb sich voller Vorfreude die Hände.
»Ja, ja. So geht es. Den nächsten großen Verkauf tätigen wir dann in Lyon. Dort waren einst viele auf der Suche nach dem Grünen Löwen. Gewiß hat nicht einmal der Krieg ihre Zahl übermäßig verringern können.« Er setzte sich aufs Bett, sortierte die getrockneten Seiten und summte vor sich hin.
Doch Margaret, die Bruder Malachis ganzen Plänen als vernünftige Frau stets skeptisch gegenüberstand, hörte mit ihrem emsigen Gekritzel auf. »Aber, Malachi«, sagte sie, »was wird aus Hugo und dem Rest der Brokesford-Männer? Seit er von dieser letzten Audienz zurück ist, führt er sich so albern auf wie eine Gans auf und hat, glaube ich, jeden Penny durchgebracht, den er mitgenommen hat, nur um sein strahlendes, neues Ich zu feiern, das Lösegeld inbegriffen.«
»Habe ich dir nicht immer gesagt, daß ein großer Geist an alles denkt? Ich habe ihn an die Kaufleute vermietet und ihm hinterher davon berichtet. Da war er gerade, wie sagt man, in flagrante delicto, schien die Nachricht aber recht gut aufzunehmen. Hör also auf, dir Sorgen zu machen, Margaret. Mein allumfassender Geist hat keine Einzelheit außer acht gelassen.« Er sortierte weiter und flocht nun Worte in sein Gesumm ein. Es war das ›Angelus ad Virginem‹.
Margaret machte sich mit gekräuselter Stirn wieder an die Arbeit und blickte nur erstaunt auf, als eine andere Stimme einfiel. Diesen Laut hatte sie noch nie gehört. Gregorys dröhnender Bariton gab den Kontrabaß ab, und er sang die Worte des Engels auf Latein. Da kannte sie ihn schon so lange und war nie auf den Gedanken gekommen, daß er musikalisch sein könnte. Obwohl es auf der Hand lag, da die meisten Geistlichen singen können. Die Worte verstand sie zwar nicht, doch das Lied kannte sie gut, denn auf Englisch war es auch sehr beliebt; es handelte vom Engel Gabriel.
»Schnöde, schnöde von dir, Gilbert. Jetzt muß ich den Diskant singen«, und schon wechselte Bruder Malachi, als sie zu der Antwort der Jungfrau kamen, zu einem hohen Falsett.
Margaret mußte einfach mitsingen; als der Refrain kam, setzte sie mit der Oberstimme ein, und ihr helles Englisch schwang sich über das sonore Latein. Die Männer sollten sich schließlich nicht einbilden, sie könnten höher singen als eine Frau. Als die lieblichen Harmonien aus dem Fenster in den leuchtenden, fremden Himmel wehten, da schwiegen ein paar der streitenden Stimmen auf dem Hof, es schien, ihnen hörte jemand zu.
»Ei, Margaret, ich wußte gar nicht, daß du so gut singen kannst.« Gregory blickte Margaret freudig überrascht an.
»Aha!« fuhr Bruder Malachi dazwischen. »Das ist der Beweis. Wenn du tatsächlich Margarets
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