Die Vision
werde ich jetzt mit Messer Pietro sprechen und dich beim nächsten Halt von dem Pferd da herunterholen und in den vordersten Schleppkahn verfrachten.«
»Wehe dir. Mir geht es sehr gut so. Hast du vergessen, wie leicht ich seekrank werde? Das Schlingern bekommt mir ganz sicher nicht.« In Wahrheit sah er mir immer noch bleich und zu gebrechlich aus, und ich wollte ihn auf keinen Fall alleinlassen. Wie jemand, der einen wertvollen Ring wiedergefunden hat, den er schon verloren glaubte, wollte ich ihn nicht mehr aus den Augen lassen. Aber meine Ausflüchte klangen wohl etwas zu weit hergeholt. So blickte er zunächst die Schleppkähne an, die so stetig auf den rauschenden Fluten getreidelt wurden. Daraufhin blickte er mich eindringlich an, es war ein langer, belustigter Blick, dann huschte ein eigenartiges Lächeln über sein Gesicht. Oh, schon wieder ertappt, dachte ich.
»Ich muß dein Gesicht sehen können«, bekannte ich und musterte erneut sein Profil, so als wollte ich es mir auf ewig einprägen. »Es hat mir zu lange gefehlt.«
»Habe ich dir heute schon gesagt, daß du eine dumme Frau, aber ein ganz großer Schatz bist?« gab er mit einem Lächeln zurück.
»Heute noch nicht, aber gestern. Und morgen hoffentlich auch.«
Aber ein paar Tage zu Pferd, selbst bei diesem langsamen Tempo, forderten bei ihm ihren Tribut. Ich sah die Spuren der Erschöpfung in seinem grauen Gesicht, und so verheimlichte ich ihm, daß sich das Kind in meinem riesigen Bauch auf diese eigenartig ungeduldige Art bewegte, die kundtat, daß es geboren werden wollte. Bruder Malachi bemerkte unsere Überanstrengung und versuchte, uns das Reiten durch Reisegeschichten leichter zu machen, Reisen, die er vornehmlich auf der Suche nach dem Geheimnis der Geheimnisse unternommen hatte, oder um Leuten zu entgehen, die ihm das Geheimnis zu entreißen trachteten. Er schlug uns ganz in seinen Bann, denn er wußte von länglichen Äpfeln in Ägypten zu berichten, die aufgeschnitten die Kreuzesform zeigen, und von der todbringenden Schlange, Krokodil genannt, die einen Menschen auf einen Sitz verschlingen kann, und auch von den Gänsen, die in den Ländern des hohen Nordens auf Bäumen wachsen und die richtige Fastenspeise abgeben.
»Gibt es denn keinen Ort, wo Ihr noch nicht gewesen seid, Malachi?« fragte ich.
»Ei, das Tartarenland und Indien – viele Orte. Afrika – das möchte ich gern einmal sehen. Und auch China, obwohl man sagt, es ist eine Legende. Das sind Orte, wo die Weisheit zu Hause ist. Da gibt es Dinge, die zum Geheimnis hinführen könnten.«
Und Mutter Hilde auf dem Sattelkissen hinter ihm nickte frohgemut.
»Wenn du diese Orte aufsuchst, Malachi, dann komme ich mit. Ich habe festgestellt, daß mir Reisen zusagt. Hast du meine ganzen Sämereien gesehen, Margaret? Einige haben Seltenheitswert. Vielleicht wachsen ein paar sogar in England.« Bei jedem Halt, bis die Winterwinde den raschelnden, vertrockneten Pflanzen die Samenkörner abgestreift hatten, war Mutter Hilde auf die Suche nach Saatgut gegangen. Wir sahen, wie sie strahlte, wenn sie eine Pflanze gefunden hatten, die ihr gefiel, und wie sie die Samen in einen bunten Stoffetzen wickelte. Und ihr Gedächtnis war so gut, daß sie allein beim Anblick des Samens schon das Aussehen der Pflanze beschreiben konnte; nur wenn sie sich einmal zu ähnlich sahen, brachte sie ein oder zwei kleine Stiche – gleichlaufend oder gekreuzt – auf dem Lappen an, um sie auseinanderzuhalten. Am Ende des Tages schlug sie ihre Päckchen dann in ein großes Tuch ein, und das wickelte sie zuweilen an trüben Tagen auf und zählte ihre Schätze wie ein Geizhals. Und als alles wieder grünte und blühte, hatte sie sich mit gleicher Inbrunst auf Beutezug bei den einheimischen weisen Frauen begeben, wo sie mittels Gestik und Mimik noch mehr Sämereien eingetauscht hatte, wodurch ihre Sammlung weiter anwuchs.
»Die Welt ist voll von Dingen, die man nicht kennt«, sagte sie dann wohl verträumt. »Gar nicht so übel, wenn Malachi das Geheimnis endlich finden würde. Dann könnten wir länger leben und überall hinreisen, und nicht auszudenken, was für Sämereien ich da bekommen würde! Jammerschade, daß zu Hause keine Apfelsinen wachsen wollen. Wenn man sie im Winter nur warmhalten könnte, wie wunderschön wäre es doch, wir hätten hinten am Haus einen Apfelsinenbaum…« Und schon war sie wieder unterwegs, sie, die mit ihren Einfällen das reine Kind war. Seltsam, wie nahe Weisheit und
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