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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Lebensgeschichte nach Diktat niedergeschrieben hättest – was übrigens die erbärmlichste Lüge ist, die du mir jemals aufgebunden hast, Gilbert –, dann würdest du wissen, daß sie singen kann, und sehr gut obendrein. Quod erat demonstrandum – du hattest nichts Gutes im Sinn, als du in Margarets Haus herumgelungert hast.«
    »Malachi, du hast Unrecht. Ich bin so rein wie frisch gefallener Schnee. Nur weil ich mitgeschrieben habe, heißt das noch lange nicht, daß ich auch zugehört habe.«
    »Zuggeben, das hört sich mehr nach Gilbert an – aber immer noch lahm, wirklich lahm.«
    »Malachi«, unterbrach Margaret, »macht lieber Schluß mit diesen hämischen Mutmaßungen. Sowie wir zu Hause sind, zeige ich Euch mein Buch. Das letzte Kapitel habe ich sogar ganz allein geschrieben, nachdem mir Gregory Lese- und Schreibunterricht erteilt hatte.«
    »Du enttäuschst mich, Margaret. Ich hatte eine etwas gepfefferte Geschichte erwartet. Doch ich muß zugeben, daß du jetzt geschickt mit der Feder umgehst, und als ich dich kennenlernte, konntest du weder lesen noch schreiben. Gilbert und Frauen unterrichten! Da siehst du, wohin das führt.«
    »Ja – auf den Dachboden eines fremdländischen Hurenhauses, wo ich alchimistische Bücher fälsche. Genau diese Art Ende hat mir mein Vater immer prophezeit«, meinte Gregory so bitter, daß Bruder Malachi das Thema wechselte.

    Der Morgen unseres Aufbruchs dämmerte hell und klar herauf. Wir hatten jetzt gerade Mitte April, aber man konnte in der Morgenluft bereits die Sommerhitze spüren, und ich hoffte darauf, daß der Tag bedeckt sein würde. Große Schleppkähne dümpelten am Ufer und wurden mit Waren beladen. Die Ochsengespanne, die sie den Fluß hinauf gegen die mächtige Strömung ziehen würden, waren schon angeschirrt, und die Knaben, die sie antreiben sollten, fläzten sich mit ihren langen Peitschen am Ufer. Noch nie hatte Hugo so prächtig ausgesehen, neben sich hoch zu Roß Robert, und beide bis an die Zähne bewaffnet. Hugos Rüstung erstrahlte hell, das Ergebnis von Roberts nächtlicher Plackerei in letzter Minute, und nie hatte das Fähnlein von Brokesford fröhlicher geflattert. Die wartenden Söldner jubelten ihm zu, während die päpstlichen Ritter und ihr Gefolge ihn feierlich und förmlich begrüßten. So fehl am Platze war ich mir noch nie vorgekommen wie in dieser Gesellschaft, so unförmig, daß ich kaum auf dem Pferd sitzen konnte, und zu allem Überfluß waren Hilde und ich auch noch die einzigen Frauen in der ganzen, großen Reisegesellschaft. Neugierige, Verwandte und Gassenjungen drängten sich herzu, um den Aufbruch des riesigen Zuges nicht zu versäumen.
    Auf einmal lief ein Murmeln durch die gaffende Menge, denn eine Mauleselsänfte mit einem Kardinalswappen näherte sich mit geschlossenen Vorhängen dem Kai. Ihr folgten sechs livrierte Diener, und zwei Jungen rannten vor ihr her, um ihr Platz zu machen. Die Sänfte kam neben Hilde und mir zum Stehen, und ich spürte die Blicke der Gaffer, als die reich beringte Hand einer schönen Frau die Vorhänge teilte.
    »Lady Margaret«, erklang die bekannte Stimme mit dem derben Akzent in Englisch, »ich bin gekommen, Euch Lebewohl zu sagen.« Ich sah Cis, die sich in die verdunkelte, unbequeme Sänfte gequetscht hatte, daß sich die Falten ihres prächtigen Gewandes um sie bauschten. Heute prangte sie in leuchtend lila Seide. Seide und Goldstoff. Sie wandte mir beim Sprechen den Kopf zu, und die Gaffer bemühten sich, einen Blick auf die üppig mit Perlen bestickte und kunstvoll mit Schließen versehene Haube zu erhaschen, unter der sich auf der Stirn ein paar freche, goldene Löckchen kräuselten, während sich ein paar Strähnen aus ihren leuchtenden, aufgesteckten Zöpfen gelöst hatten. Auf ihrem Schoß lag ein winziges, weißes Hündchen mit einem vergoldeten Halsband.
    »Na Margaret«, sagte ich (denn Na heißt in jenem Land Lady und En Lord), »macht meinem Namen Ehre, und damit Gott befohlen.«
    »Ihr seid immer freundlich gewesen, Lady. Nicht wie die anderen. Aber ich sage allen Lebewohl, sogar Sir Hugo, wenn er sich wie ein Mensch aufführt. Der hat mir nie für die Audienz gedankt, die ich ihm verschafft habe – hat nur geknurrt, er meinte es nicht persönlich, aber er hätte sich gleich gedacht, daß ich ihn mit einem Haufen von knoblauchstinkenden Nichtsen zusammenführen würde. Aber Euren Dankbrief, den mir der kleine Junge da gebracht hat, den habe ich bekommen, und da bin ich. Ich

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