Die Vision
Kindlichkeit beieinander liegen können, und Mutter Hilde, für mich die weiseste aller Frauen, ist dafür das beste Beispiel.
»In ein paar Tagen sind wir in Vienne. Von da ist es nach Lyon ein Katzensprung. Die Kaufleute entladen ihre Waren und kehren flußabwärts heim. Und wir verkaufen wieder ein Buch – was für ein Glücksfall, daß wir schon zwei losgeworden sind! – und heißa, auf geht es nach Paris in Begleitung der päpstlichen Granden! Das Glück ist uns hold, meine Lieben! Gilbert, du hast mich noch nicht einmal zu meiner klugen Planung beglückwünscht. Du solltest Gott für den hellen Kopf danken, der dir eine so bequeme Rückreise ermöglicht. Fürwahr, ist das nicht ein herrlicher Tag? Ich komme mir ganz vergeistigt vor – nur noch reine Vernunft, die sich in den Äther schwingt! Oder möchtest du Paris nicht so gern wiedersehen? Keine Bange, seit damals hast du dich völlig verändert. Kein Mensch erkennt dich dort wieder, das kannst du mir glauben. Du brauchst nur die Kapuze hochzuschlagen und dir den Bart nicht zu schneiden. Ja, ja. Du siehst ganz anders aus. Sorge dich nicht um den anderen Morgen, so sage ich immer, es ist genug, daß ein jeglicher Tag seine eigene Plage habe.«
Das mit der eigenen Plage eines jeglichen Tages – diese Stelle mag ich überhaupt nicht. Ich habe lieber keine Sorgen und Plagen, doch so läuft es meistens nicht. Wir waren immer noch weit von jeder Ortschaft entfernt, da konnte ich mir nichts mehr vormachen. »Gregory, hilf mir«, sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen, denn der Schmerz, der mich durchfuhr, konnte nur eine Wehe sein. »Das Kind kommt.«
»Unmöglich«, sagte er. »Wir sind noch nicht zu Hause.«
»Wer um Himmels willen hat dir eingeredet, daß es erst kommt, wenn wir zu Hause sind? Es kommt jetzt.«
»Bist du sicher?«
»Gregory, ich habe schon zwei geboren. Es ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Bitte, sage jetzt Malachi und Hilde Bescheid.« Und er wandte das Pferd und ritt nach vorn, wo Malachi Hilde von der Tochter des Hippokrates erzählte, welche in einen häßlichen Drachen verhext worden ist und auf der Insel Langos in der Nähe Griechenlands wohnt und auf einen Ritter wartet, der so tapfer ist, daß er sie küßt und ihr ihre wahre Gestalt wiedergibt. Ich hing jetzt vornübergebeugt im Sattel und umklammerte mit beiden Händen meinen riesigen Bauch, so als könnten die alles aufhalten. Die Zügel waren mir entglitten, und die kleine Stute, die merkte, daß etwas nicht in Ordnung war, warf den Kopf hoch und wollte davontraben. Die Stöße machten es nur noch schlimmer. Ich merkte, daß Gregory herangeritten kam und nach den Zügeln griff.
»Versteck mich, bitte, bitte. Laß es mich nicht vor aller Augen bekommen«, schluchzte ich. Wortlos bedeutete er Malachi und Hilde, ihm zu folgen. Hinter uns löste sich Hugo aus der Marschkolonne und kam herangaloppiert.
»Das Kind kommt«, sagte Gregory.
»O nein, das geht nicht. Es ist sehr gefährlich, die Kolonne gerade jetzt zu verlassen. Sag an, Margaret, kann das nicht bis später warten.«
»Es will aber nicht warten«, sagte ich ganz rot im Gesicht, während mir die Tränen aus den Augen liefen.
»Na gut, Bruder. Wer hätte gedacht, daß ich deinetwillen einmal eine so große Dummheit begehen würde«, sagte Hugo und ritt nach vorn zum Söldnerhauptmann; darauf bedeutete er seinen Männern, die Straße mit uns zu verlassen. Und in einem Gehölz, in welchem sich die geschwärzten Ruinen eines ehemaligen Dörfchens versteckten, stellten sie Wachen auf, während Gregory mich von der kleinen Stute herunterholte. Ich ächzte. Mit einem raschen Blick erfaßte ich sein entsetztes Gesicht, dann widmete ich mich meiner Arbeit. Irgend jemand hatte mir seinen Umhang untergelegt.
»Nicht zusehen, nicht zusehen«, keuchte ich. »Das gehört sich nicht.«
»Jetzt geht es nicht mehr um Sitte und Anstand, Margaret«, sagte Hilde. »Der Kopf tritt schon durch. Und nun keinen Mucks jetzt. Der Himmel weiß, wer uns hier belauschen mag. Da, beiß darauf, wenn du schreien mußt.« Es war ein Gürtel, Gregorys Gürtel. Heilige Muttergottes, ich danke dir für Hilde! Wer schwanger auf Reisen gehen muß, sollte lieber die beste Wehmutter von ganz London mitnehmen. Und als ich dann ihre Hände spürte, diese festen, kundigen Hände, da war mir auf einmal klar, daß sie nicht nur Malachi zuliebe mitgekommen war. Die großherzigste Freundin auf der ganzen Welt hatte mich auf eine wahnwitzige Suche
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