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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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und tränenüberströmt. Er machte eine Handbewegung, und die untätigen Knechte gafften nicht länger, sondern stellten die Schragen fürs Abendessen auf und legten die Bretter darüber.
    »Ihr sitzt beim Essen zu meiner Rechten«, sagte er ruhig zu Margaret. Der Ehrenplatz. Den hatte er ihr noch nie angeboten, nicht einmal an ihrem Hochzeitstag.
    Beim Abendessen reichte er ihr eigenhändig den besten Bissen vom Mahl. Sie starrte auf die Platte und schüttelte ganz leicht den Kopf.
    »Wollt Ihr wieder nichts essen? Ihr bringt Schande über mein Haus.«
    »Das tut mir leid. Das wollte ich nicht«, sagte sie bekümmert. »Es ist nur, ich esse das da nicht.«
    »Salzheringe? Es ist Fastenzeit, Madame. Besseres habe ich Euch nicht zu bieten.« Sie wandte ihm das blasse Gesicht zu und sah ihn bänglich und zugleich abbittend an.
    »Es tut mir wirklich leid. Ich möchte auf gar keinen Fall Schande über Eure Tafel bringen. Es ist nur – also – also ich kann nichts mit Augen essen.«
    »Wenn das alles ist. Ich nehme sie heraus.«
    »Nein, das ist es nicht – ich meine, alles, was einmal Augen gehabt hat.«
    »Und wie kommt das?« Gregory saß bei der Unterhaltung starr vor Angst da. Der alte Mann war zu allem fähig. Er konnte einem Bauern mit einem jähen Hieb den Schädel zertrümmern. Er hatte sich schon unheimlich lange zusammengerissen – jeden Augenblick konnten seine angespannten Nerven reißen, und dann schlug er um sich. Gott weiß wie arg. Margaret war zu klein, zu zart, zu verrückt für seines Vaters Haus. Er mußte sie fortbringen. Wenn nur das Erbe freigegeben wäre, dann könnte er sie an einen sicheren Ort bringen. Eine falsche Bewegung, und es stand schlimm um Margaret.
    Doch der alte Lord sah dieses Mal richtig neugierig aus. Margaret merkte das und antwortete schlicht:
    »Ich würde die Augen im Schlaf sehen. Alle würden sie mich anblicken und mir Alpdrücken verursachen.« Die Antwort schien den alten Mann überhaupt nicht zu überraschen. Als Damien vor ihm niederkniete und ihm das nächste Gericht anbot, durchbrach der Sieur de Vilers die strenge Speisenfolge und ließ nach Käse schicken. Er sah ihr die ganze Zeit beim Essen zu, strich sich mit der linken Hand den Bart und dachte nach. Mit Pferden kannte er sich sehr gut aus und wußte, er täuschte sich nicht. Was er gesehen hatte, das hatte er gesehen. Eine Frau, die ein gestürztes Schlachtroß wieder auf die Beine bringen konnte, war keine gewöhnliche Frau. Doch eine Frau, die ein Pferd mit einem gebrochenen Bein wieder auf eben diese Beine brachte, die Augen sah und keinen Fisch aß und die ihn verängstigt anstarrte, weil sie merkte, daß er gesehen hatte, was den anderen entgangen war – das stand auf einem ganz anderen Blatt. Das konnte sich durchaus zum Problem auswachsen.
    Hatte Gilbert die ganze Zeit über Bescheid gewußt? Es wäre eine Erklärung für die Miene, welche der dumme Bengel gemacht hatte, als er verkündete, wo man sich schon die Mühe gemacht hätte, sie zu retten, könnte man sie auch gleich entführen. Er musterte das Gesicht seines zweiten Sohnes. Nein, wenn einer nichts merkte, auch wenn man ihn mit der Nase darauf stieß, dann Gilbert. Andererseits aber war es Gilbert gewesen, der sich widersetzt hatte und sie erst hatte fragen wollen, ehe man sie entführte. Und der alte Lord würde nie im Leben, auch nicht dieses eine Mal zugeben, daß Gilbert möglicherweise recht gehabt hatte.

    In den Tagen nach der seltsamen Mahlzeit, bei welcher der Sieur de Vilers mir das Hochzeitsgeschenk überreichte, lief alles besser, zumindest aber ruhiger. Doch Cecily und Alison waren in Ungnade gefallen. Sie waren ausgerissen und hatten beinahe sein Schlachtroß umgebracht, und so verordnete Sir Hubert ihnen Hausarrest im Söller unter der Aufsicht eines grimmigen Burschen namens Dicker Wat, einem einstmaligen Pikenier, der ihn auf all seinen Kriegszügen in Schottland begleitet hatte. Dieser wackere Mann hatte Anweisung, sie nicht aus den Augen zu lassen, bis man eine Kinderfrau von der Beschaffenheit eines Drachen aufgetrieben hatte.
    »Sie können von Glück sagen«, meinte Gregory eines Tages nach dem Abendessen, »mich hat er für geringere Missetaten bei Brot und Wasser im Keller eingesperrt. Und dort unten gibt es ganze Heerscharen von Spinnen.«
    »Er ist sehr hart. Mich hat er schon bei unserer ersten Begegnung in Angst und Schrecken versetzt.«
    »Ach, laß die Ohren nicht hängen, Margaret. Zumindest hat er dir noch nie

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