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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Bruder Malachi, und das hatte Sieur Bernard auf der Stelle gemerkt.
    Aus dem, was ich hörte, schälten sich zwei große Probleme heraus! Erstens bemühte er sich, nach den Sternen die genaue Zeit der Wiederkunft Christi zu errechnen. Das hätte er schon längst geschafft gehabt, wenn wegen der schlechten Qualität der früheren Sternenkarten nicht Probleme mit dem Kalender aufgetaucht wären. Mit dem stimmte etwas nicht – nämlich die Berechnung der Phasen und der Jahre. Seine Seiten voller römischer Ziffern stellten einen Versuch dar, den Schaden zu beheben, was jedoch ein ungeheures Unterfangen war.
    »Leider übersteigt es meine Kräfte in diesem Leben«, seufzte er. »Aber ein neuer Kalender muß her.« Bruder Malachi und Gregory nickten. Hugo blickte so glasig geistesabwesend wie bei Predigten und bei Unterhaltungen über die Preisschwankungen von Salzheringen zur Fastenzeit. Ich kannte mich mit Sternen zwar auch nicht aus, aber ich wollte wissen, was es mit dem Kalender auf sich hatte.
    »Einfach ausgedrückt, so daß es auch eine Frau versteht, die Sterne und der Kalender sind nicht phasengleich, und wenn das so weitergeht, dann haben wir demnächst im Januar Sommer und im Juli Winter.«
    »Oh!« entsetzte ich mich. »Wie bald geschieht das?«
    »Erst in vielen hundert Jahren.« Er lächelte ironisch über meinen Schreck.
    »Aber wozu dann die ganze Aufregung? Das ist doch noch lange hin – soweit kann ich gar nicht denken.«
    »Ich rege mich auf«, gab er zurück, »weil es meine Berechnungen der Wiederkunft Christi durcheinanderbringt.« Er wandte Bruder Malachi den großen Kopf zu. »Er wird viel Mühe kosten, die größte aller Zeiten, dieser neue Kalender. Nur der Papst selbst kann das in die Wege leiten und anordnen. Und dennoch sehen diese Päpste in Avignon keine Notwendigkeit, von Ketzerjagd und Palastbauten abzulassen und sich dem größten Problem der Christenheit zu widmen. Zuweilen verzweifle ich schier: Vielleicht hat ja Gott soviel Verwirrung auf Erden gestiftet, weil er uns nicht wissen lassen möchte, wann wir Christi Wiederkunft auf Erden erwarten können.« Wieder nickten Bruder Malachi und Gregory ernst.
    Wir blieben einige Zeit. Seine Gliedmaßen konnte ich zwar nicht wieder gerade richten, aber ich konnte ihm die Schmerzen nehmen und ihm Luft verschaffen, so daß man den Sieur de Martensburg schmerzlos die lange Wendeltreppe hoch auf den Turm tragen konnte. So manchen Abend kletterten wir bei Fackelschein hinter ihm zu der Plattform hoch, die er sich als Observatorium auf dem Turm hatte bauen lassen. Dort wurden die Fackeln gelöscht, denn so konnte man die Sterne am dunklen Himmelsdom besser sehen. Er und Malachi unterhielten sich dann über Dinge, die ich nicht verstand, wie beispielsweise die Anzahl der himmlischen Sphären, und Malachi brachte Dutzende von Argumenten für deren acht vor, was den sieben Wandelsternen und der Sphäre der Fixsterne entsprach, doch Sieur Bernard hatte noch ein Dutzend mehr für eine neunte, jenseits der Sphäre des Saturn. Sie kamen zwar nie zu einer Einigung, aber sie waren wirkten alle beide sehr zufrieden mit ihrem komplizierten Disput. Und dann machten sie sich an Messungen mit dem Astrolabium und betrachteten und diskutierten den Lauf der himmlischen Häuser.
    Gregory konnte auch nicht immer ganz folgen, aber ich sah, wie sein aufgeweckter Geist alles aufsog, während er hinter einer abgeschirmten Kerze Notizen für den gebrechlichen Sieur Bernard machte. Ich half ihm dabei, bückte mich über das winzige Licht, spitzte Federn und löschte die fertigen Blätter, damit Gregory beim Aufschreiben der Beobachtungen seines Onkels Schritt halten konnte. Und der Kleine, den ein Diener hochgetragen hatte, lag neben mir in seinem Körbchen, denn man kann einem Kind die Sterne gar nicht früh genug zeigen.
    Doch selbst der allerschönste Besuch geht einmal zu Ende. Sieur Bernard war hocherfreut, als sich herausstellte, daß Gregory eine Chronik schreiben sollte, und bat ihn, seine Sorge um den Kalender darin aufzunehmen. »All das und mehr noch«, gestand ihm Gregory freundlich zu. Und so schieden wir mit einem Brief an den berühmten Jehan le Bel, Domherr zu Lüttich und ein großer Kirchenmann und zugleich einer der erfolgreichsten Chronisten unserer Zeit.
    »Nur damit du eine Ahnung davon bekommst, welchen Ruhm man mit diesem weltlichen Unterfangen – im Gegensatz zum Beobachten von Sternen – erwerben kann«, sagte Gregorys Onkel mit einem

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