Die Vision
ironischen Lächeln. Selbstverständlich fing Gregorys Tante allein schon bei dem Gedanken daran, wie traurig sie nach unserem Aufbruch sein würde, einen ganzen Tag im voraus an zu weinen.
»Weh mir, weh, es ist, als würde ich meine liebe Schwester noch einmal verlieren«, schniefte sie, als wir in ihrer Kemenate spannen. Ihre jüngste Tochter, jetzt dreizehn Lenze und fürs Kloster bestimmt, saß neben uns, zart und verkrüppelt, doch mit flinken Fingern, die mit eleganten und säuberlichen Stichen ein Altartuch stickten. Als ich ihre Handarbeit bewunderte, da dünkte mich, ich könnte über dem Stickrahmen eine neblige Gestalt schweben sehen, die das prächtige Muster betrachtete.
»Oh, was ist das?« rief die Mutter aus und bekreuzigte sich, und das Mädchen blickte hoch und musterte interessiert die Gestalt, die sich jetzt materialisierte.
»Sagt ihr, daß ich hierbleibe«, sagte Madame Belle-mere. »Meine Kraft reicht nicht aus, das Wasser noch einmal zu überqueren. Was«, so setzte sie hochfahrend hinzu, »meines Wissens ohnedies noch kein Geist geschafft hat. Sagt ihr das.«
»Madame, Eure Schwester weilt als Geist unter uns«, sagte ich.
»Das sehe ich. Und sie sieht so frisch und jung aus.« Madame seufzte. Das Gespenst lächelte erfreut und rückte wieder einmal den Schleier zurecht, damit die dunklen Locken auf ihrer Stirn vorteilhafter zur Geltung kamen.
»Oh, Ihr könnt sie hören? Wenn ich das doch auch könnte! Liebe Bertrande, gib ein Zeichen, wenn du mich hörst.« Das Gespenst hob einen dunstigen Finger.
»Na gut, wenn ich reden kann und sie Zeichen gibt, so kommen wir schon zurecht. Du hast den Klatsch von Jahren aufzuholen. Und von dir mußt du auch erzählen. Was ist nur aus dem kleinen Mädchen geworden, von dem du mir in einem Brief geschrieben hast?…« Und so verließen wir Madame äußerst zufrieden, denn wie sie sagte, galt ihr ein voll ausgebildetes Gespenst genauso viel wie eine Nase.
Eine steife Brise schwellte die Segel der kleinen Kaufmannskogge, daß ihre Stander nur so flatterten. Sie zerrte an Gregorys Umhang, als er sich über die Reling beugte und nach den ersten Anzeichen der vertrauten, weißen Klippen Ausschau hielt. Selbst die unter Deck eingesperrten Pferde hoben den Kopf und wieherten. Margaret wickelte sich und den Kleinen fester in ihren Umhang; sie stand in sicherer Entfernung einige Schritte hinter Gregory. Ihrer Theorie zufolge konnten Leute, die sich über die Schiffsreling beugten, jederzeit ins Wasser fallen, und deshalb konnte man gar nicht vorsichtig genug sein. Nur die unmittelbare Gefahr, in der ihr Mann schwebte, hatte sie bewogen, sich so weit vom Mast zu entfernen.
»Da, ich glaube, ich kann sie sehen, Margaret«, rief er. »Und hörst du die Pferde? Selbst die wissen, daß wir fast daheim sind.«
»Bei Christus und allen Heiligen, beuge dich nicht so weit vor«, rief sie in den salzigen Wind.
»Margaret? Was ist dir? An Land bist du doch so tapfer wie ein Tiger.«
»Das Meer ist etwas ganz anderes. Es ist voller Wasser«, rief sie als Antwort zurück. Gregory verließ die Reling und stellte sich wieder neben sie.
»Schon gut, schon gut. Da bin ich ja, und ich bin auch nicht hineingefallen. Dergleichen geschieht nämlich nicht.« Er legte den Arm um sie und hob den Umhang, um einen Blick auf das Gesicht des schlafenden Kleinen zu werfen. Er konnte es immer noch nicht ganz fassen, daß er etwas besaß, was viele Männer am höchsten begehrten, einen Sohn, und mußte sich deshalb häufig überzeugen, daß das kleine Wesen noch immer da war.
»Aber ja doch, jederzeit.« Margarets Stimme klang erregt. Er spürte, wie sie bei ihren Worten erschauerte. »Und dann macht es nur noch platsch! und schon wird man von den Fischen gefressen. Und was würde dann aus mir?«
»Und aus mir? Ich wäre derjenige, den die Fische fressen würden«, sagte er mit spöttisch gewölbter Braue.
»Deine eigene Schuld«, sagte sie fest. »Aber ich würde zurückbleiben und deshalb mehr leiden.« Er blickte träumend über das Meer hin. »Da wir gerade von Fischen reden, was hast du von dem gehalten, den der Domherr zu Lüttich beim Festmahl auftragen ließ?«
»Der riesige, vergoldete, der noch Augen hatte? Pfui.«
»Einen so großen habe ich meiner Lebtage nicht gesehen. Und die Pfauen, und der Schwan. Ei, wenn der nicht gut lebt.«
»Mir hat es bei deinem Onkel besser gefallen.«
»Er ist Geistlicher, aber er kleidet sich wie ein Ritter und hat eine Hausherrin
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