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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Locken, dann beugte er sich zu mir, während sie in eine andere Richtung blickte, und sagte leise und verdutzt: »Margaret, ich dachte, an meinem Haar wäre nichts auszusetzen?«
    »Es steht dir ausnehmend gut, Gregory. Mit anderen Haaren wärst du nicht halb so schön«, flüsterte ich zurück.
    »Und das ist deine Frau und euer wonniger Kleiner! Herein, herein mit Euch und begrüßt Sieur Bernard de Martensburg, meinen Mann.«
    Und als sie uns in den Palas vorauseilte, warnte sie uns: »Verdenkt es ihm nicht, wenn er zu eurer Begrüßung nicht aufsteht, seine Gliedmaßen sind verkrüppelt, er ist an den Stuhl gefesselt. Wenn ihr euch jedoch mit ihm unterhaltet, merkt ihr schon, daß er ein Mann von scharfem Verstand ist. O ja. Äußerst bewundernswert. Und deswegen preise ich mich in jeder Hinsicht glücklich.« Und damit wirbelte sie inmitten eines Schwarms von pucelles , Pagen, Gästen, Knechten, Hunden und einem halben Dutzend nackte Bauernbälger mit schmutzigem Gesicht, die sie auf ihrem Weg durch den Innenhof irgendwie aufgelesen hatte, geschäftig durch ihre Haustür. So erging es ihr immer, denn sie war die Quelle aller guten Gaben, und ob man nun Nadel und Faden, Milchbrötchen, einen Ochsenkarren, ein Fest für fünfhundert Gäste oder eine Beisetzung mit sechzig gemieteten Klageweibern brauchte, immer hieß es ›Geh zu Madame‹. Daher war sie ewig von erwartungsvollen Geschöpfen aller Arten umdrängt und kannte keine Ruhe und keine Rast.
    Der Palas war groß und schön und aus hellfarbigem Stein und hatte hohe, gewölbte, von Säulen getragene Fenster. Man führte uns zu einem Kastentisch, der ganz mit einem schönen, prächtigen Tuch bedeckt war, daß wir den Herrn von Martensburg begrüßten, der sich mit Papieren beschäftigte, die er aufgerollt und deren Ecken er mit Büchern beschwert hatte. Auf einer Seite lagen ein Astrolabium und andere Instrumente, Federn und ein Tintenfaß standen auf der anderen. Auf ein Wort hin nahm oder holte einer der beiden Diener, die ständig um ihn waren, was immer er haben wollte. Sein verhutzelter Leib hockte in einem großen, mit Kissen ausgelegten Stuhl, die verschrumpelten Beine hingen nutzlos herunter. Sein Rücken hatte einen Buckel, seine Brust war hohl, und sein Atem pfiff. Im Vergleich zu seinem geschrumpften Leib war sein Kopf, als er ihn von der Arbeit hob, mit der breiten und hohen Stirn und dem langen Kinn ausgesprochen groß. Die Augen, die uns entgegenblickten, waren dunkel und strahlten eine fast beängstigende Intelligenz aus.
    »Wohledler Herr und Gemahl, das hier sind die Söhne meiner Schwester mit ihrer Familie, die uns besuchen wollen.« Einen Augenblick ließ sie von ihrer Betriebsamkeit ab, und ihre wirbelnden Kleider kamen sozusagen zur Ruhe, derweil sie einen tiefen Knicks vor ihm machte und uns beim Hochkommen vorstellte. Als die Knechte, die das Körbchen trugen, ihm den Kleinen hinhielten, damit er ihn betrachten konnte, blickte er ihm lange ins schlafende Gesichtchen. Peregrin machte beim Schlafen Schmatzlaute und schnarchte lustvoll.
    »Hat das Kind gerade Gliedmaßen?« fragte er.
    »Ja, Mon Seigneur«, antwortete ich.
    »Dann war es doch mein Blut«, sagte er als Antwort auf eine unausgesprochene Frage. Und mir fiel wieder ein, was Madame Belle-mere gesagt hatte: die Kinder hätten schlechte Knochen. »Seid ihr neugierig?« fragte er uns alle. »Habt ihr dergleichen noch nie gesehen? Es ist ein von Gott gesandtes Gebrechen, das mit der Zeit immer schlimmer wird. Als ich mich vermählte, da trugen mich meine Beine noch, und meine liebe Frau sagte, ein aufrechtes Herz sei ihr mehr wert als ein gerader Rücken.«
    Darauf machte Malachi eine Bemerkung über seine Sternenkarten, um ihn von diesem unangenehmen Thema abzulenken. Wenn ich mich recht entsinne, so ging es um die Sonne, welche in das Zeichen der Jungfrau eintrat, aber mit Sternen kenne ich mich nicht aus, das ist mir zu kompliziert. Sieur Bernards Laune hob sich sichtlich, und schon bald gingen die beiden seine Berechnungen durch. Malachi weiß eine Menge über Sterne, das braucht er für seine Arbeit mit Metallen. Wie er mir einmal erklärt hat, gibt es sieben Wandelsterne, die den sieben Metallen zugeordnet sind: beispielsweise Merkur für Quecksilber und Mars für Eisen. Der Rest sind Fixsterne, und die rühren sich nie vom Fleck. Auch Gregorys Interesse erwachte, als Sieur Bernard anfing, seine Karten zu erläutern, doch kaum jemand kennt sich mit Sternen so gut aus wie

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