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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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würdet verstehen – eine Märtyrerin, ja eine Märtyrerin, und das beinahe ein ganzes Jahr lang.
    Beim zweiten Gang, als der elegant angerichtete Pfau auf einer Platte inmitten einer Fülle von Beilagen hereingetragen wurde, merkte man schon, daß die Weine gut ausgesucht waren, denn der Raum wirkte angenehm warm und rosig. Sir John rang sich nach und nach zu einer guten Meinung über die Kaufleute in der City durch, bei denen es sich eindeutig um ernsthafte Männer mit Weitblick handelte. Das waren keineswegs die luxusversessenen, geldgierigen und unehrenhaften Parasiten, wie man ihn hatte glauben machen. Ein jüngerer Sohn von etwas zarter Gesundheit wie sein kleiner Thomas, der sich nicht recht für das geistliche Amt eignete, dürfte sich hier ausgezeichnet machen, wenn er ihm eine Lehrstelle bei einem so ehrbar aussehenden Ratsherrn wie Master Wengrave verschaffen konnte, welcher so verständig über das Bankwesen und die neuen Münzgesetze zu plaudern verstand.
    »Gar nicht so übel für einen jüngeren Sohn, was?« Sir Hubert beugte sich zu Sir William und flüsterte so laut, daß man es von hier bis Dover hören konnte.
    »Ihr scheint ihn wirklich gut untergebracht zu haben, obwohl die Art und Weise zugegebenermaßen etwas ungewöhnlich war«, gab Sir William zurück, denn ihm war aufgefallen, daß Sir Huberts Gilbert und seine Margaret immer einer die Sätze des anderen zu Ende bringen konnten, so als wüßten sie im voraus, was der andere dachte. Genauso ging es ihm mit seiner alten Dame Alys, doch schließlich hatte man sie bereits in der Wiege verlobt und zusammen in dem Wissen aufgezogen, daß sie einmal heiraten würden, falls sie, so Gott wollte, das Erwachsenenalter erreichten.
    »Ich bin NIEMALS gewöhnlich«, sagte der alte Lord mißbilligend und sah selbst noch in seinem Sonntagsstaat wie ein Freibeuter aus.
    »Das wollte ich auch nicht gesagt haben, Sir Hubert. Aber ist Euch aufgefallen, wie gut sie miteinander auskommen?«
    »Glaubt ja nicht, das wäre mir entgangen. Verflucht ungehörig. Ein Mann sollte sein Herz nicht an eine Frau hängen. Das schwächt die Mannhaftigkeit.«
    »Ihr habt Glück mit Eurem Großsohn«, sagte Sir William und wechselte damit taktvoll das Thema. Was ihn anging, so hatte sein Philipp noch viel aufzuholen.
    »Glück? Das macht die KRAFT des BLUTES!« verkündete der alte Lord. »Seht Euch die an.« Und Sir Hubert wies mit einem Fasanenschlegel in Richtung der Mädchen und dämpfte die Stimme zu einem verschwörerischen Geflüster, daß die Balken erbebten. »Die Frau bringt überhaupt nur Mädchen zuwege. Habe ich sofort gemerkt. ›Taugt nur für einen zweiten Sohn‹, habe ich bei mir gedacht. ›Wenn überhaupt etwas in ihm steckt, dann bekommt er vielleicht die richtige Gefährtin.‹ Bei einer Frau, die nur Mädchen zuwege bringt, muß der MÄNNLICHE Samen stärker sein als die WEIBLICHEN Säfte.« Glücklicherweise machte Gregory gerade ein Wortspiel in Latein und bekam nichts mit. Margaret jedoch, und sie errötete tief. Der alte Lord schwieg, um dem Fasanenschlegel den Garaus zu machen, knirschte genüßlich auf den Knochen herum und schluckte geräuschvoll, ehe er fortfuhr: »Wenigstens glaube ich jetzt, daß wenigstens etwas an dem Jungen funktioniert. Wer weiß? Wenn er seine Nase nicht soviel in Bücher gesteckt und damit seine Mannhaftigkeit geschwächt hätte, aus dem hätte etwas werden können.«
    Als die letzten Reste der Früchte und Süßigkeiten abgetragen waren und noch mehr Wein hereingebracht wurde, meinten etliche, der Abend wäre doch ein wenig zu kunstsinnig für sie, denn nun stand Robert le Clerc auf und hob seinen Becher zu einem weitschweifigen Trinkspruch in Latein. Wer diese Zunge aber verstand, erklärte dem Nachbarn rasch, daß er Bacchus, den Gott des Weines, anrief, unterschlug jedoch, wie ausnehmend heidnisch das war, denn Robert hatte letztens eine große Zuneigung zu den etwas unanständigen Werken Ovids gefaßt.
    Und der so stilvoll beschworene Bacchus, den man viele Jahrhunderte lang vernachlässigt hatte, segnete den Abend. Und als sich Master Will erhob und verkündete, er könne in Englisch deklamieren, freuten sich alle, die kein Französisch verstanden. Und als er dann noch das fremdländische Reimen als modisches Mätzchen anprangerte und bedauerte, daß man die schöne, alte Alliteration dafür aufgab, da freuten sich alle alten Ritter, die eine Heldensaga erwarteten. Zugegeben, es verbreitete sich leichte

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