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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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gearbeitet, dessen kleine, gesteppte Sohlen durchgelaufen waren. Das hier ist am Leben geblieben, dachte ich, und es war ihr Liebling, sonst hätte sie die Schühchen nicht aufgehoben.
    »Mama, Puppenkleider! Dürfen wir die haben?«
    »Wir brauchen welche, Mama, Martha ist ganz nackt!« Und schon wollten die Mädchen den Kasten aus der Truhe zerren. Der Dicke Wat steckte die Nase schon wieder in den Alebecher.
    »Sie gehören euch nicht«, sagte ich, schob ihre Hände fort und klappte die größere Truhe zu. Doch die Mädchen fanden nicht einmal Zeit zum Quengeln, denn schon nahm sie ein furchtbarer Aufruhr auf der Stiege völlig in Anspruch.
    »Wer hat mich mit Ale übergossen? Ich prügle ihn zu Tode!« Wütendes Geschrei schallte die Stiege hoch. Es war Damien, der Knappe. Er und Robert hatten auf dem Hof exerziert und waren mitten in einem gespielten Zweikampf, als Damien sich an die Mauer lehnte und sich ausruhen wollte, was dann unselig endete. Die Mädchen sprangen auf und versteckten sich kichernd unter dem großen Bett.
    »Ihr wart das also! Wartet, euch versohle ich anständig den Hosenboden! Kommt heraus, ihr kleinen Teufel!« Er schnappte sich einen unter dem Bett hervorlugenden Arm und zog kräftig. Halb hatte er Cecily schon heraus, da biß sie ihn in den Finger, und er ließ sofort los. Sie rutschte unter das Bett zurück, und er saß auf dem Boden, lutschte sich den wunden Finger und versuchte, ihre leuchtenden Augen im Dunkel auszumachen. Auf einmal ging ihm auf, wie komisch das ganze war, und er fing an zu lachen. Er war gerade sechzehn, ein Jahr jünger als Robert, der andere Knappe, und er sah reizend aus, wie er da saß und lachte. Seine lustigen, blonden Locken waren ganz naß und verklebt, aber der Flaum auf seinem Kinn schimmerte wie Gold. Er hatte keinerlei Zukunft, außer daß jedermann ihn gern hatte, und das war auch etwas wert. Und er war Kinder gewöhnt; mir hatte er einmal erzählt, daß er acht lebende, jüngere Geschwister hätte, die seinem Vater die Haare vom Kopf fraßen. Er war die Hoffnung seiner ganzen verarmten Sippe, und irgendwie hatten sie genug Geld zusammengekratzt, um ihn als Pagen im Haus des Sieur de Vilers unterzubringen, damals, als es noch eine Lady de Vilers gab.
    »Ich hasse dich«, sagte er in das Dunkel unter dem Bett.
    »Ich Euch auch«, kam Cecilys Stimme unter dem Bett hervor.
    »Ich auch«, sagte Alison, die sich hinter ihrer Schwester versteckte.
    Es war Liebe.
    Von nun an benahmen sich die Mädchen so gesittet, wie sie konnten. Wenn Damien um etwas bat, dann war es schon so gut wie geschehen. Sie hefteten sich an seine Fersen, bis er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte, sie bettelten, daß sie seine Sachen tragen oder seine Botengänge machen durften. Sogar die Dorfbewohner lachten darüber. Und natürlich zankten sich die Mädchen um ihn.
    »Wenn ich groß bin, heirate ich Damien.«
    »Tust du nicht, er heiratet mich!«
    »Nein, er geht weg und wird in Frankreich reich, und dann kommt er zurück und entführt mich auf seinem Pferd – aua! Laß das Treten! Mama, Alison hat mich getreten!«
    »Hab ich nicht. Und sie hat eine häßliche Fratze gemacht, Mama. Sag ihr, daß ihr Gesicht so stehenbleibt!«
    »Nein, nein, tut es aber nicht.«
    »Tut es wohl! Jetzt bleibst du dein Lebenlang so schrumpelig, und er heiratet mich, ätsch!«

Kapitel 3
    S eit unserer Heirat war mehr als ein Monat ins Land gegangen. Der März wollte schon scheiden, und die Osterglocken schoben die ersten grünen Spitzen durch den Morast. Und doch war ich mit Gregory weniger allein gewesen, als zu der Zeit, ehe uns der Priester gesegnet hatte. Das warf natürlich die Frage auf, ob er mich überhaupt noch gern hatte; für ihn war ich so selbstverständlich wie ein neues Möbelstück, an das man sich gewöhnt hat. Aber es war nicht nur das; es ärgerte mich einfach, daß ich mich unter Fremden zum Gespött machte. Ich war der letzte Schrei, weil es sonst keinerlei Lustbarkeiten gab. Schlimmer kann es einem kaum ergehen.
    »Wollt Ihr jetzt Euer Unterkleid gereinigt haben, Mistress, und das Überkleid auch?« Cis hielt meine verdreckten Kleider ans Licht und grinste. »Mmm. Eine hübsche Stickerei.«
    »Bürste erst den Dreck aus, dann weichst du sie in kaltem Wasser ein. Ich möchte nicht, daß die Farben verlaufen. Und denk daran, wenn ich nach unten komme, möchte ich nicht erleben, daß du sie zusammen mit der schmutzigen Wäsche auskochst.«
    »Oh, damit kenne ich mich jetzt

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