Die Vision
schien das ganz normal zu sein.
»Mit Sicherheit hat ihn Vater dazu angestiftet. Er meint, er hat es schlau angestellt, aber ich weiß, er war es – die Idee kann nur auf seinem Mist gewachsen sein. Hugo ist beschränkt, der hätte nichts gemerkt, wenn Vater ihn nicht aufgehetzt hätte.« Ich war so entgeistert, daß ich nicht mehr wußte, über wen ich mich mehr erbosen sollte. Die hatten noch ihren Spaß an meinem Elend! Ich konnte Hugo mit seinem dümmlichen Grinsen und seiner hämischen Freude direkt vor mir sehen.
»Morgen reiten wir wieder«, fauchte ich.
»Genau das habe ich von dir erwartet«, sagte er fröhlich.
Und so ging ich, um mir meine Wunden im Söller zu lecken, wo ich den Rest des Nachmittags verbringen und meinen Mädchen das Sticken beibringen wollte, damit sie nicht noch mehr Schaden anrichteten. Dort fand ich den Dicken Wat, wie er sein trauriges Los bejammerte. Zu seiner Entlastung sollte im benachbarten Weiler eine furchteinflößende Wittib angeheuert werden, und das konnte ihm gar nicht schnell genug gehen. Er hatte sich bereits mit Reitunterricht und Märchenerzählen aufgerieben. Als Drohungen und Bestechung nichts mehr nutzten, hatte er Zuflucht zum Ale genommen und betäubte nun seine Sinne aus einem reichen Vorrat. Küchenjunge um Küchenjunge brachte es ihm hoch, und alle brannten sie darauf, seine Schauergeschichten zu hören. Als ich aus dem engen Stiegenhaus auftauchte, lag er vor einem Publikum aus Küchenjungen auf dem Strohsack und gab fast an seiner eigenen Erzählung den Geist auf, während Cecily und Alison im Söller herumtobten.
»Das ist die Strafe für meine Sünden, daß ich noch drei Tage mit ihnen eingesperrt bin«, wehklagte er gerade. Und bei seinen Worten lachten die Küchenjungen hinter der vorgehaltenen Hand. Denn sie sahen, was er nicht sehen konnte – er redete, und die Mädchen vergnügten sich damit, einem Unachtsamen unter dem Fenster eine undefinierbare Flüssigkeit aus Wats großem Krug auf den Kopf zu schütten. Es war an der Zeit, daß eine Frau eingriff.
Die Mädchen ließen von ihrem Tun ab und umringten mich, während ich die kleine, kunstvoll gearbeitete Truhe durchstöberte, in der das Nähzeug sein sollte.
Unten in der Truhe fand ich das Gewünschte: Ein fremdartig aussehendes Kästchen, von ziselierten Messingbändern zusammengehalten, die dringend poliert werden mußten. Darin fand ich einen Stickrahmen mit einer nicht beendeten Stickerei, die so aussah, als wäre sie für ein Priestergewand bestimmt. Außerdem eine prächtig mit Silber beschlagene Kunkel und darunter einen Stapel säuberlich zusammengelegter Säuglingswäsche. Ich holte das erste Stück heraus. Ein Kittel für ein kleines Mädchen, aber nicht fertig, für Alison zu klein. Dann ein Kleidchen für ein Neugeborenes, halb fertig, hübsches Leinen, jedoch ungesäumt. Ein winziges Mützchen mit oben abgesteppten Ringen, damit konnte ein Kleinkind laufen lernen, ohne sich den Kopf an der Kaminplatte aufzuschlagen. Keine Bänder, und die gesteppten Ringe waren auch nicht alle fertiggestellt. Was mochte das für eine reiche Frau gewesen sein, die es sich leisten konnte, gutes Material einfach wegzulegen – so viele Sachen nicht zu beenden?
Als ich die verstaubten, vergilbten Sächelchen so hielt, spürte ich, wie sich mir das Herz zusammenschnürte. Ich konnte erahnen, was sich abgespielt hatte. Der Nähkasten hatte einer reichen Frau gehört, ja – einer Frau, die mich im Sticken übertraf, denn sie hatte auf Seide und Samt gelernt, und ich nur auf grobem Material. Aber auch einer armen Frau. Einer Frau, der trotz ihrer zierlichen Stiche, ihrer Frömmigkeit und ihres Silbers die Kinder weggestorben waren. Ich spürte es mit aller Gewißheit – jedes winzige Kleidungsstück war für ein Kind bestimmt und noch nicht fertig gewesen, als es starb, und dann beiseitegelegt worden, weil sie es nicht ertrug, die Arbeit zu beenden. Und dann hatte auch sie die Stickerei beiseitegelegt und war selber gestorben. Ein ganzes Frauenleben in einem Nähkasten, das sah ich darin. Ob mein Nähkasten am Ende auch so aussehen würde? Ich legte die Hand aufs Herz, damit es nicht so wehtat. Und wie ich so still in den Binsen neben dem Kästchen kniete, war das Kalte Ding wieder da und hüllte mich ein, daß mich fröstelte.
Doch da war noch mehr. Unter dem Schächtelchen mit den Nadeln lag flach zusammengepreßt ein winziges Paar Säuglingsschuhe ganz aus einem sehr dünnen, samtweichen Leder
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