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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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einschlief, wunderte ich mich noch darüber, wie sich Kinder die Dinge zurechtbiegen. Ihr Vater war ein vielbeschäftigter Mann gewesen. Nie wäre er auf die Idee gekommen, sie ins Bett zu bringen, auch wenn er ein stetig sprudelnder Born spannender Geschichten war.

    Am darauffolgenden Morgen hatte ich natürlich alles vergessen, was Cecily und Alison gesagt hatten. Man kann doch Kinder nicht für ihre nächtlichen Umtriebe verantwortlich machen. Außerdem sieht morgens alles ganz anders aus. Die Sonne geht auf und macht die Erde neu, und immer wieder schöpft man Hoffnung, daß doch noch alles gut wird. An diesem Morgen verschafften sich die Knappen in der Halle Bewegung, sie säuberten nämlich die Kettenhemden, da Sir Hubert für seine Bettelfahrt zum Herzog alle Rüstungen blank geputzt haben wollte. Cecily und Alison hatten sich den beiden jungen Männern an die Fersen geheftet und schauten dem Vorgang bewundernd zu, denn für sie war das eine Art Sport. Die Knappen nähten die Kettenhemden mit einer dicken Nadel in einen Sack voll Sand ein, machten daraus eine Art Ball, den sie dann unter Gejohle und Gehüpfe durch die Gegend warfen, bis der Sand die rostigen Kettenhemden blitzblank geschmirgelt hatte.
    Ich hatte mir für diesen Morgen etwas vorgenommen. Etwas Besonderes, etwas für mich ganz allein. Ich hatte gesagt, ich wollte Flickarbeiten machen, und das glaubten sie denn auch, als sie mich allein nach oben verschwinden sahen. Jetzt ging ich auf Zehenspitzen leise zur Stiegentür und schloß sie überaus behutsam. Dann stapelte ich überzählige Kleidungsstücke von den Mädchen neben mir auf der langen Fensterbank, falls jemand durchs Zimmer gehen sollte. Doch unter den Kleidern lagen meine neue Tinte, Rohrfedern und zwei Blatt Papier, eines davon halb vollgeschrieben. Ich hatte mich die letzten beiden Tage derart bemüht, den Mund zu halten, daß ich schier aus den Nähten platzte und dem Papier anvertrauen mußte, was ich von der ganzen Sippschaft hielt. Zunächst schrieb ich nieder, was ich von den hohen Herren hielt, dann schrieb ich, was ich von der Liebe hielt, und dann schrieb ich, was ich von der Haushaltsführung in diesem Haus hielt und um wie vieles besser ich das machen könnte, wenn ich dem Hausverwalter die Befehle geben dürfte, und wie ich ein paar Frauen aus dem Dorf holen lassen würde, um den Stall hier auszumisten.
    Wie anders war das bei Master Kendall gewesen! Der hatte mich gewähren lassen, solange ich es gut machte. Und es hatte ihm immer gefallen, wie gemütlich ich sein Haus gemacht hatte, und er hatte mich gelobt, wenn es nach Lavendel duftete und ihn nichts aus den Ecken ansprang und ihn im Vorbeigehen stach. Niemand, so hatte er gesagt, hatte ihm das Haus so behaglich und sauber geführt – weder sein Hausverwalter noch seine erste Frau, obwohl die eine Heilige war und er sich bei dem Gedanken an sie stets bekreuzigte. Und dann küßte er mich wohl und sagte: »Margaret, was bist du doch für ein liebes Mädchen, ich weiß gar nicht, wie ich auch nur einen Tag ohne dich auskommen konnte.« Fürwahr, wenn man solche Worte hört, wird einem keine Arbeit zu viel.
    Und da hockte ich nun auf der Fensterbank und hatte die Füße unter den Rock gezogen. Die erste, bleiche Frühlingssonne beschien mein Blatt, und draußen zwitscherten die Vögel, und an den kahlen Ästen der Bäume sprossen die ersten, grünen Knospen. Ich war ganz in meine Schreiberei vertieft und so glückselig, daß ich die grimmige Stimme kaum hörte, die vom Turmaufgang her brüllte: »GILbert! Du wirst hier gebraucht! Sucht in der Kapelle nach ihm, womöglich wälzt er sich dort auf dem Fußboden. Ich gehe jetzt in den Stall, er soll nachkommen.« Und so wie der Schatten des Habichts das Kaninchen ins Loch rennen läßt, so bewirkten die ersten Schritte, daß mein Papier unter meinen Röcken verschwand, dann blickte ich auf, um nachzusehen wer da kam.
    »Was habt Ihr denn da so schnell versteckt, Schwester? Etwa ein Liebespfand?« Hugos scharfen Augen entging nichts, vor allem wenn es sich um Tierfährten auf der Jagd oder um weibliche Ränke handelte. »Mein einfältiger Bruder hat die Katze im Sack gekauft – eine hinterlistige Frau, die etwas unter ihren Röcken versteckt. Sofort her damit.« Er stemmte die linke Hand in die Seite und streckte die rechte aus. Wäre ich ein Mann, ich dürfte vor aller Augen schreiben, an einem Tisch, und dürfte Leute, die mich dabei stören, ausschimpfen: »Wie könnt ihr

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