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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Mauern von Withill Manor haben etwas gelitten, und das Dach ist teilweise abgebrannt, der Palas muß also neu aufgebaut werden. Die Ställe sind auch in Flammen aufgegangen – das Reet brannte wie Zunder. Doch wir haben die Leute des Grafen bis auf den letzten Mann ausgeräuchert und vertrieben. Keinen Mann dabei verloren, nur der alte Hobb mußte einen Schwerthieb einstecken. Und du glaubst es nicht, aber nachdem wir fertig waren, schickte der Graf eine Botschaft, daß sein Haushofmeister entgegen seinem Befehl zuviel des Guten getan hätte und er den Herzog nie habe kränken wollen. Was wiederum einmal beweist, siegen ist alles.« Sie standen jetzt vor der Wand mit dem Wald aus Geweihen. Ein Lichtstrahl vom hohen Fenster verfing sich auf den üppigen, grünen Falten von Gregorys schwerem, pelzgefütterten Wollumhang.
    »Das ist doch ein neuer Umhang, oder?«
    »Vom Herzog. Hugo hat ein Samtgewand bekommen und Vater ein neues Hundepaar – die scheckigen dort drüben. Margaret, du hast ja keine Ahnung, wie huldvoll, wie bewunderungswürdig er ist – wie weitsichtig und wie hochherzig! Der größte und vollkommenste Kriegsherr von ganz England, abgesehen vom Prinzen und natürlich König Edward selber.«
    »Gregory, was hat sich dort zugetragen?« Margaret hörte sich argwöhnisch an. Früher hatte Gregory den Herzog für zu streng, zu unbeugsam und zu wenig begeistert für die Belange des Geistes und der Seele gehalten.
    »Du hast ja keine Ahnung, was für eine geistige Autorität er ist –«
    »Gregory, was hat ihn zu einer geistigen Autorität gemacht, da er doch ganz der Alte geblieben ist?«
    »Und sein Verständnis –«
    »Sag mir um Himmels willen, was er getan hat.«
    »Fürwahr, Margaret«, sagte Gregory glücklich, »er hat mir ein Geschenk gemacht – genug jedenfalls, daß wir alle auf den Besitz aufgenommenen Schulden abzahlen können.«
    »Ein Geschenk? Lieber Himmel, wofür? Große Männer geben nichts umsonst.«
    »Natürlich nicht. Ich trete in seine Dienste. Ich gehe in seinem persönlichen Gefolge nach Frankreich. Du ahnst ja nicht, was für ein Glück ich habe. Ich sage dir, von einer solchen Ehre kann so manche gute Familie nur träumen. Er hat dafür gesorgt, daß ich zum Ritter geschlagen werde, Margaret, ich, ein Ritter! Das war mir nie bestimmt, denn Vater kann die Gebühren nicht aufbringen. Ei, Margaret, du wirst eine Lady – freut dich das nicht? Kommendes Pfingsten schlägt er zwölf von uns zum Ritter. Und damit noch kein Ende der Ehrungen, die er mir erwiesen hat. Ich höchstpersönlich werde seine edlen und mutigen Taten aufzeichnen und damit die größte Chronik unserer Zeit in Angriff nehmen. Denk doch nur, eine Chronik von ritterlichen Taten, nicht das abgedroschene Gewäsch irgendeines vertrockneten Klerikers. Mein Name wird unsterblich! Er hat gesagt, das können nicht viele – ein Gelehrter, der obendrein Soldat war –«
    Margaret riß entsetzt die Augen auf.
    »– ein Mann aus altehrwürdiger Familie, der von ritterlichen Tugenden genausoviel versteht wie von Gelehrsamkeit –«
    Margaret erblaßte.
    »Ein hochherziger Auftrag erteilt von einer hochherzigen Seele«.
    »Nicht Frankreich«, sagte sie. »Lieber Gott, nicht Frankreich.«
    »Aber Margaret, das ist eine Ehre«, sagte Gregory zärtlich.
    »Dann bin ich hier ganz allein. Ich habe doch nur dich, Gregory. Was ist, wenn dir etwas zustößt – bedeutet dir denn unsere Ehe gar nichts?« fragte sie, und ihre Hand fuhr zu ihrem Herzen.
    »Die größte Ehre meines Lebens –«
    »Könntest du dich nicht einfach mit Heimkehrern unterhalten und das dann aufschreiben?«
    »Das schwebt dem Herzog nicht vor, Margaret. Merkst du denn nicht, ich bin ein neuer Mensch? Ei, jetzt könnte ich alles schaffen. Vielleicht verkehren wir eines Tages sogar bei Hofe. Bist du denn gar nicht dankbar? Er hat dein Erbe gerettet und die Schulden auf dem Besitz getilgt, und das alles mit einer Geste, die eines Königs würdig ist. Und dann – ei, ich habe einen Gönner für meine Gedichte, für das Meditationsbuch gefunden, das ich schreiben will –«
    »O mein Gott«, sagte Margaret und klammerte sich an seinen Ärmel. Sie zitterte am ganzen Leib. Gregory legte den Arm um sie und führte sie sanft zu einer Bank an der Wand in seines Vaters Rittersaal, direkt gegenüber vom Feuer. Dort saßen sie inmitten von Lärm und Durcheinander, als wären sie ganz allein auf der Welt.
    »Du mußt das verstehen, Margaret. Er hat mir meinen Lebensinhalt

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