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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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erzählt, Kinder bekommt man, wenn man heiratet. Damals hielt ich das für besser, als ihnen vorzumachen, Gott würde sie in einem Korb oder an einem Seil vom Himmel herablassen, doch ich hatte nicht vorausgesehen, daß ich mich in dem Lügengespinst verheddern könnte.
    »Mama, warum kommen die Frauen mit ihren Kindern und betteln um Brot?« fragte Cecily, der nichts entging. »Warum backen sie das nicht zuhause oder kaufen es beim Bäcker?«
    »Mm. Sie haben kein Haus und kein Geld, Cecily.«
    »Sind ihre Häuser abgebrannt?«
    »Nicht ganz. Also, sie – ehem – sind nicht verheiratet.«
    »Ach. Aber woher haben sie dann die Kinder? Hat Gott einen Fehler gemacht, als er den Korb heruntergelassen hat?«
    »Woher weißt du das mit dem Korb, Cecily?«
    »Ach, von Mutter Sarah. Sie hat mir alles erzählt. Der Korb ist aus Gold, und Gott holt ihn sich hinterher wieder – sonst wäre die Welt doch voller goldener Körbe. Ich finde, wenn solche Frauen sehen, daß der Korb kommt, sollten sie rufen: »Lieber Gott, du machst einen Fehler. Ich habe noch nicht vor der Kirchentür gestanden. Schick mir den Korb wieder, wenn ich verheiratet bin‹.«
    »Fürwahr, Cecily, eine gute Idee«, seufzte ich.
    »Cecily ist blöd«, sagte Alison. »Gott macht keinen Fehler. Die Frauen sind alle verheiratet, und die Papas sind gestorben. Jetzt haben sie kein Haus und kein Geld mehr, genau wie wir.«
    »Halt den Mund, Alison«, sagte Cecily und knuffte ihre Schwester. »Hab ich dir nicht gesagt, daß du Mama nicht damit kommen sollst.« Als Alison losheulte, blickte mich Cecily mit bänglichen Augen an und suchte meinen ebenso bänglichen Blick. »So geht es uns doch niemals, nicht, Mama?« fragte sie.
    »Nein, mein Herz, niemals. Um euch kümmert sich immer jemand. Euer Papa hat euch eine Mitgift hinterlassen, damit ihr heiraten könnt.« Falls ich die je in die Finger bekomme, dachte ich bei mir. Cecily schwieg und ließ sich das durch den Kopf gehen.
    »Mama«, sagte sie auf einmal, »sollen Ritter nicht Witwen und Waisen beschützen?« Ich zögerte einen Augenblick bei dem Gedanken an all die Witwen und Waisen, die sie gerade auf dem Kontinent machten.
    »Aber ja doch, Cecily«, antwortete ich.
    »Stiefgroßvater ist ein Ritter. Warum gibt er ihnen nichts?« Ich geriet immer tiefer in den Sumpf. Wieder seufzte ich.
    »Zuweilen vergessen Menschen, was sie sich vorgenommen hatten.«
    Von hinten fuhr eine weibliche Stimme dazwischen: »Ihr seht wohl alles im rosigen Licht, was?« Es war Cis, die Dreiste, die, mit einem Korb voll nasser Wäsche auf dem Kopf, die sie aufhängen wollte, auf dem Weg nach draußen war.
    »Cis, du vergißt dich vor den Kindern«, protestierte ich.
    »Entschuldigung, Mistress. Aber ich bin auch eine Waise, und da könnt Ihr sehen, wie gut man sich um mich gekümmert hat«, sagte sie und strich mit der Hand, die nicht den Wäschekorb hielt, das alte Kleid über ihrem Bauch glatt.
    »Cis, du nicht auch noch.«
    »Was denkt denn Ihr, was bei dem ganzen Geturne herauskommt? Wenn die an Eurer Statt hier wären, sie hätten mich schon an die Luft gesetzt wie einen Hund – und hätten sich eine neue Wäscherin genommen.« Das klang nicht bitter, sondern nur sachlich.
    »Cis, ich helfe dir.«
    »Womit denn? Mit einem Laib Brot? Einer alten, zerfledderten Decke? Laßt Euch gesagt sein, Lady, Ihr meint es gut, nur leben kann man davon nicht. Aber ich habe meinen Glauben. Gott hat mehr mit mir vor, und das nehme ich mir, wenn es soweit ist.«
    Doch mir blieb nicht einmal Zeit, sie zum Schweigen zu bringen, da stürmten auch schon eine Horde schnatternder Frauen und Kinder auf uns ein, und das Thema war Gott sei Dank vergessen. Mutter Sarah, die alte Malkyn, Peg, die Milchmagd und ein halbes Dutzend andere.
    »Mistress, kommt schnell! Der Hausverwalter hat einen Dieb in der Käserei erwischt!«
    »Und wo wart ihr, als er eingedrungen ist? In der Schenke?« Ich eilte davon, und die ganze Schar folgte mir auf den Fersen, sogar Cis mit ihrem Korb Wäsche. Ich biß die Zähne zusammen und wappnete mich für den Kampf, als ich diese Vogelscheuche von einem Mann erblickte, den der Hausverwalter am Ohr gepackt hielt. Er hatte ihm die Hände auf dem Rücken zusammengebunden, und der alte Mann flehte um Gnade. Ein struppiger Köter, auf den niemand mehr Obacht gab, machte sich über die Reste des frischen, grünen Käses her, der, in das Seihtuch eingeschlagen, in welchem er eben noch gehangen hatte, auf der Erde lag.
    »Und ich

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