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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Manifestationen.«
    »Ach, im Ernst?« sagte ich und erschrak. Außer mir hatte noch keiner Master Kendall gesehen – und seine kleinen Mädchen natürlich.
    »Ja – hier gibt es einen rauchigen Kerl in Kaufmannstracht, der formt sich da drüben in der Ecke, wenn sie das Feld geräumt hat – also, sie ist ja noch zu ertragen – eigentlich recht huldvoll. Aber er! Der kann einen an den Rand der Verzweiflung bringen! ›Warum malt Ihr die Heiligenscheine so? Die sehen nämlich nicht so rund aus. Ihr solltet sie mit Strahlen versehen wie richtiges Licht, Eure sehen ja wie angelehnte Teller aus. Und das Gefäß mit dem siedenden Öl da – das gleicht einem Nachttopf. In Rom habe ich ein viel besseres Jüngstes Gericht gesehen, da schwebten die Seligen auf Wolken…‹ und so geht es, und so geht es! Als ob ich nichts Besseres zu tun hätte! ›Und warum kehrt Ihr nicht einfach nach Rom zurück?‹ sage ich, und dann war er ganz eingeschnappt und erzählte mir, daß Geister nicht übers Wasser können und daß ich kein Auge mehr zutun würde, falls ich mich nicht bei ihm entschuldigte –«
    »Master Kendall? Seid Ihr wieder da? Warum habt Ihr mich nicht besucht? Ihr habt mir gefehlt,« sagte ich in die Luft.
    »Dann kennt Ihr ihn also! Ihr habt mich wirklich hinters Licht geführt. Nicht zu fassen! Zwei von der Sorte! Und kommen nicht einmal miteinander aus. Wer ist er übrigens?«
    »Mein Mann. Besser gesagt, mein früherer Mann. Er hatte einen ausgezeichneten Geschmack. Ihr solltet seinen Rat befolgen. Aber wieso seht Ihr ihn eigentlich?«
    »Ich? Ich bin Maler. Ich habe also sehr gute Augen. Ich sehe sie , ich sehe Euren Master Kendall, und ich sehe das merkwürdige Licht rings um Euch, das sonst keiner sieht, und ich sehe, daß Ihr immerfort weint, auch wenn Eure Augen trocken sind – so wie jetzt eben. Das tun viele Frauen. Aber wenn Ihr wirklich eine Heilige wärt, dann wäre Euer Licht ganz rund und golden, wie ein Teller, was auch immer dieser Geist – ehem, Entschuldigung –, diese Manifestation, die ihre Nase in alles steckt, behauptet. Darum bin ich mir auch nicht sicher, was Ihr seid. Ich bin nur geblieben, weil ich mir Eure Züge einprägen wollte. Ich war auf dem Weg nach York, um für die Domherren der Kathedrale ein Bild zu malen, ehe meine Reise ein so gewaltsames Ende fand, und ich habe vor, Euer Gesicht zu verwenden. Warum sollte ich mich sonst wohl mit diesen ganzen Figuren abplagen, Mylady, die Ihr so gut zu feilschen versteht?«
    »Ihr seht zuviel«, sagte ich, und auf einmal ärgerte ich mich über ihn.
    »Das sagen viele Leute«, gab er zurück. »Ach – da ist er ja wieder.« Und tatsächlich, da war Master Kendalls dunstige Gestalt in dem Neujahrsgewand, in welchem er gestorben war.
    »Master Kendall? Wo seid Ihr solange gewesen?«
    »Ach, ich war in Bedford und habe mir angeschaut, wie die Wechsler die Leute übers Ohr hauen. Dabei habe ich ein paar hübsche Taschenspielertricks gelernt. Irgendwann zeige ich sie dir. Wie kommt dieses lachhafte Bild voran?«
    »Lachhaft, pa!« zürnte der Maler.
    »Aber Ihr habt mir gefehlt.«
    »Gefehlt? Und ich dachte mir, du hättest keine Zeit für mich – diese ganze Betriebsamkeit immer. Also wirklich – Fohlen und Bastarde entbinden –, nicht gerade damenhaft. Du solltest besser auf deinen Ruf achten, hier bei diesen Hinterwäldlern –«
    »Ich bin froh, daß Ihr Euch immer noch so um mich sorgt – aber laßt mich von den Mädchen erzählen –«
    »Liebe! Nichts als Liebe!« rief der Maler spöttisch und legte letzte Hand an Gottes Bart.
    Aber als er fertig war, fanden alle, das Bild wäre das Prächtigste, was man in dieser Gegend je zu Gesicht bekommen hätte, und ich schämte mich furchtbar, daß ich ihm so gar kein Geld geben konnte. In meiner Ehe mit Master Kendall war das ganz anders gewesen, das kann ich wohl sagen. Der hatte für Künstler und Gelehrte immer eine offene Hand. Aber dann kam mir eine Idee.
    »Wenn Ihr einen Brief von mir bei Vater Bartholomäus in der Kathedrale abgebt, daß er ihn mit einem Hauptmann in die Normandie schickt, so wird er Euch an meiner Stelle entlohnen. Er ist ein Vetter meines Schwiegervaters um mehrere Ecken herum, und er hält viel von meinem Mann.«
    »Von welchem Mann, dem Geist?« gab der Maler ironisch zurück.
    »Nein, von meinem richtigen Mann, der am Leben und mit dem Heer des Herzogs in Frankreich ist«, sagte ich etwas ungeduldig, denn letztens war ich ziemlich gereizt und müde.
    »Aha«,

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