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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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mußt ›ich liebe dich‹ sagen, ehe du gehst.«
    »Ach Margaret, du Dummerchen«, sagte er, und sein Gesicht war ganz Zärtlichkeit. »Du weißt doch, daß es so ist.« Er beugte sich herab und löste sacht meine Hände von seinem Steigbügel, und dann küßte er mein erhobenes Gesicht, wie man wohl einen Säugling küßt.
    »So, und jetzt kein Aufhebens mehr, benimm dich wie eine Dame«, ermahnte er mich und wandte das ungeduldig tänzelnde Pferd. »Gott segne dich, Margaret«, hörte ich ihn sagen, als er sein Reittier anspornte, denn er wollte die entschwindende Marschkolonne wieder einholen.
    »Lieber Gott«, flüsterte ich bei mir. »Wir haben nicht –«. Die Knie wurden mir so weich, daß ich mich hinsetzen mußte, geradewegs in den Dreck am Wegesrand. »Es ist alles aus.«

    Jetzt muß ich von etwas berichten, was immer wieder geschieht: In einem Herrenhaus verändert sich etwas, wenn nur noch alte Männer und Knaben da sind. Und das sind die Frauen. Frauen, die sonst stumm dabeisitzen, machen jetzt den Mund auf; Frauen, die schwach sind, pflanzen und säen und ernten; Frauen, die einfältig sind, können klug urteilen, und Frauen, die beim Anblick von Blut in Ohnmacht fallen, verteidigen große Häuser mit Pfeilen und siedendem Öl. Es ist, als hätte sich ein Zauberbann gehoben: Kehren die Männer zurück, so auch der Zauberbann, und wir werden allesamt wieder einfältig und schwach. Wie das geschehen kann, bleibt Geheimnis. Und natürlich wissen die Männer von gar nichts, da sie ja die Verwandlung nicht miterlebt haben. Nur, was bringt sie auf die Idee, sie könnten bei ihrer Heimkehr alles unverändert vorfinden, wenn wir tatsächlich so unfähig wären, wie sie glauben?
    So geschah es auch in Brokesford, wo man die Veränderung zuerst in der Dorfschenke merken konnte. Ohne Ehemänner, die den Frauen verbieten können, sich zu treffen, zu trinken und zu schwatzen, saßen die Bänke voller schnatternder Frauen, die ihr hartes Tagewerk beendeten wie sonst die Männer. Und da die Herren auch fort waren, nahm die Wilddieberei zu, denn Frauen haben genausoviel Spaß an der Jagd wie Männer. Der Hausverwalter drückte ein Auge zu, wenn die Bäuerinnen um diese Jahreszeit auf Schädlingsjagd gingen, damit schützten sie die Ernte und die Hühnerställe, solange die Herren abwesend waren.
    Immer wieder fand ich das Backhaus, das Malzhaus oder die Käserei verlassen vor und mußte höchstpersönlich die streunenden Mägde herbeiholen. Und ich fand sie inmitten einer Schar anderer, kreischender Bäuerinnen, wie sie Kaninchen zu Tode prügelten, kleine Geschöpfe, die vor dem Frettchen mit dem Maulkorb flohen, das man in ihrem Bau auf sie losgelassen hatte. Wenn sie auftauchten, verfingen sie sich in den Netzen, die man über die Eingänge gespannt hatte, und schon bald schmorten sie im Topf oder wurden zu Handschuhen verarbeitet. Ich kann die Kaninchenjagd einfach nicht ausstehen. Denn ein Kaninchen schreit nur in Todesangst, dann, wenn es die Keule niedersausen sieht. Es ist ein dünner, spitzer Schrei, der geht durch Mark und Bein. Ich würde meine ganze Kraft brauchen, um mir über dem unheimlichen Wehgeschrei Gehör zu verschaffen und die Leute wieder an ihre Arbeit zu schicken.
    Und da ich hier die Herrin war, im Augenblick jedenfalls, wurde ich ständig von Bittstellern angegangen, zumeist mit Bitten um Aufhebung eines Urteils vom Hausverwalter. Aber auch immer mehr Frauen mit vertraut aussehenden kleinen, blonden Kindern auf dem Arm bettelten um Almosen. Vermutlich dachten sie, ich wäre mitfühlender als der alte Lord, der immer sagte: »Wenn ich einer helfe, habe ich sie alle am Hals; außerdem weiß man nicht einmal, ob sie alle von mir sind. Frauen, pa, können ihre Röcke nicht zusammenhalten! Für eine Unterstützung würden die Gott weiß was behaupten.«
    Aber ich habe es noch nie übers Herz gebracht, ein Kind in Not abzuweisen, und obwohl der alte Lord mir keinen Penny Bargeld dagelassen hatte, trieb ich irgendwo immer eine Mahlzeit und nachgelesene Ähren und alte Kleidungsstücke und Bahnen groben Wolltuches auf, und dann gingen sie nicht so nackt und hungrig, wie sie gekommen waren. Doch der Hausverwalter beklagte sich, daß ich zuviel weggäbe, und jeder Zusammenstoß mit ihm wurde grimmiger, so daß ich mich am Ende vor jedem neuen fürchtete. Und natürlich war es mir peinlich, den neugierigen Mädchen zu erklären, worum es ging. Das dürfte meine Schuld sein, denn ich habe ihnen

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