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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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sage dir, wir hier hacken Dieben die Hand ab.« Der Hausverwalter fletschte die gelben Zähne und grinste heimtückisch. »Wenn du unschuldig bist, warum hast du dann nicht am Tor um Aufnahme gebeten?«
    »Es war niemand da –«
    »Und dir ist zu Ohren gekommen, daß der Herr nicht daheim ist und die Mistress nicht ganz richtig im Kopf –«
    »Auf der Stelle aufhören!« rief ich und bemühte mich, so grimmig zu klingen wie der alte Lord, was nicht einfach ist. »Wie könnt Ihr es wagen, in meiner Gegenwart schlecht von mir zu reden!«
    »Wollt Ihr ihn hier hängen oder ihn ohne Hand fortschicken, Mylady?« fauchte der Hausverwalter. »Oder habt Ihr vor, hier nicht nur Bettler, sondern auch Diebe gastlich aufzunehmen?«
    »Ihr könnt mir glauben, Sir Hubert bekommt jedes Eurer Worte zu hören, wenn er zurück ist. Ihr beleidigt mich, Ihr bringt Unehre über sein Haus, denn Ihr verweigert dem Mann Gerechtigkeit. Ich verspreche Euch, ich werde dafür sorgen, daß man Euch im Hof durchpeitscht wie einen Hund, wenn Ihr mir noch einmal in die Quere kommt. Ich will diesen Mann anhören.« Der Hausverwalter ließ das Ohr fahren.
    »Raus mit der Wahrheit, du Schurke, oder ich reiß dir die Zunge raus, das schwör ich dir«, fuhr ihn der Hausverwalter an.
    »Es ist alles ein Mißverständnis. Ich kann den Käse bezahlen«, sagte der Mann. Sein Gesicht hätte rundlicher sein können, aber seine grauen Augen gefielen mir, und er wußte seine Worte wohl zu setzen.
    »Wie willst du zahlen, denn wenn du einen Penny hättest, wärst du in die Schenke gegangen und hättest besser gespeist als das hier –« Ich zeigte auf die Reste des Hundefutters.
    »Sie hatte keinen Bedarf für das, was ich eintauschen wollte«, sagte er. Man konnte praktisch durch sein fadenscheiniges, braunes Gewand hindurchsehen. Seine mottenzerfressene Bruch reichte ihm bis zu den Knöcheln, und er ging barfuß, wie so viele um diese Jahreszeit. Sein Redeschwall nahm kein Ende, denn er schien wild entschlossen, mir etwas zu beweisen. »›Der Buschen ist gut genug für mich‹, so hat sie gesagt, ›was soll mir ein kunstvolles Gemälde‹. Aber für Euch könnte ich etwas Prächtiges machen. Ein hübsches Wappen für die Halle vielleicht? Ich kann von mir behaupten, daß ich schon für höchste Kreise gearbeitet habe. Ich ziehe doch nur durch diese gottverlassene Grafschaft, weil in der Kathedrale von York ein großer Auftrag auf mich wartet.« Ein Maler! Was für ein Glücksfall!
    »Sind Eure Farben in dem Bündel da? Malkyn –« Ich nickte in Richtung des Bündels, und die alte Frau schlug es auf. Krüge, Schächtelchen, eine große Platte voller bunter Farbspritzer und Pinsel jeglicher Größe und Art kamen zum Vorschein.
    »Wenigstens das stimmt, Mylady.« Der Verwalter sah wütend aus, weil man ihm die Beute weggeschnappt hatte. »Obwohl ich bezweifeln möchte, daß man an einer so großen Kathedrale wie der von York auf eine solche Jammergestalt wartet. Und glaubt ja nicht, daß Ihr mir dafür nicht bezahlt, denn ich erzähle es Sir Hubert bei seiner Rückkehr«, knurrte er bärbeißig, während der Kerl eilig seine Farben zusammensuchte. Habe ich schon erzählt, daß der Verwalter eine Art Vetter der Familie ist? Eine verarmte Linie. Darum betut er sich so und ist so unleidlich. Aber umgehen kann man ihn auch kaum.
    »Unsere Kapelle ist frisch getüncht und wirkt sehr kahl«, sagte ich, und schon spitzte der Maler die Ohren und unterbrach mich.
    »Ei, ich könnte eine Muttergottes, eine gnadenreiche Jungfrau, malen, mit Eurem schönen Antlitz natürlich, wohledle, huldreiche Dame.«
    Du meine Güte, der erkannte wirklich blitzschnell, woher der Wind wehte. Es geht doch nichts über eine rasche Auffassungsgabe.
    »Ich hatte eher an ein Jüngstes Gericht über dem Altar gedacht.« Das sagte ich zu dem Maler gewandt. Der Verwalter stand stumm daneben und machte ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter.
    »Ein Jüngstes Gericht?« Der Maler schien nachzurechnen. »Dafür braucht man viele Figuren. Eine hübsche Madonna eignet sich viel besser für eine Kapelle – das ist nämlich ein Frage der künstlerischen Harmonie.« Der Verwalter blickte den Maler mit seinen bösen, kleinen Augen an.
    »Ein Jüngstes Gericht paßt am besten – schließlich habt Ihr den Käse genommen, nicht ich. Bedenkt außerdem, was Euch sonst blüht«, machte ich ihm deutlich.
    »Keine nette Heilige Familie?«
    »Sie würde keine Heilige Familie mögen, und sie hat mir selber

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