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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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recht. Er hat am Ende doch mit Euch geschlafen. Das dachte ich mir schon, aber er hat nichts verraten.«
    »Ich liebe ihn, und ich trage sein Kind.«
    »Ihr habt ihn geliebt, meint Ihr.«
    »Nein, ich liebe ihn. Er ist nicht tot. Ich weiß es. Er wird zu seinem Kind heimkehren und auch zu mir.«
    »Ihr seid eine Närrin; ich habe Euch falsch eingeschätzt. Sehr falsch eingeschätzt. Für eine Dame habe ich Euch zwar nie gehalten, damals, bei unserer ersten Begegnung im Haus des reichen Mannes. Aber jetzt sehe ich, daß Ihr zu edler Liebe fähig seid. Eine aussichtslose und hoffnungslose Liebe. Ein Beweis für Euer Blut.«
    Also wirklich, zuweilen kann selbst noch ein so bedauernswerter, halb toter Mann eine Frau wütend machen. Aber es ist nicht nett, mit Kranken zu schimpfen. So sagte ich nur: »Ich schwöre Euch, er lebt.«
    »Aus Euch spricht der Wahnsinn«, antwortete er, »aber bei Gott, ich wünschte, es wäre wahr. Wahnsinn ist barmherziger als das, was ich erdulden muß. Wenn Gott mir doch nur das Leben nehmen würde, statt mich wissen zu lassen, was ich weiß.« Und er stöhnte, als ich den Umschlag erneuerte. »Er ist dahin; er ist tot. Seid Ihr zu irre, um der Wahrheit ins Gesicht zu sehen?«
    »Ihr habt nicht gut genug gesucht. Er lebt.«
    »Gesucht? Ich und nicht gesucht? Törichtes Frauenzimmer! Was wißt denn Ihr? Ich sage Euch, tage- und nächtelang habe ich gesucht. Bei Fackelschein bin ich mit den Herolden losgezogen, und wir haben jeden Leichnam umgedreht, während sie das Wappen in die Totenrolle eintrugen. Jedes Gesicht, jeden dunklen Lockenkopf, immer habe ich seinen gesucht. Durch die rauchenden Trümmer jener Stadt bin ich geirrt und habe gesucht – gesucht und gerufen.«
    »Dann hat man ihn gefangengenommen.«
    »Wir haben keinerlei Lösegeldforderung erhalten. Kein Mann von Rang verschwindet ohne einen Leichnam oder eine Lösegeldforderung.«
    »Dann ist er verwundet und hält sich versteckt.«
    »Versteckt? Bei den Franzosen? Die würden ihm lieber die Kehle durchschneiden nach allem was wir dort angerichtet haben. Stellt Euch der Wahrheit, Frau. Er ist tot, und das Kind, das Ihr tragt, ist eine Waise, das helf' ihm Gott.«
    »Niemals, sag' ich.«
    »Wahnsinnig, vollkommen wahnsinnig. Wenn ich es doch auch nur wäre. Mein Gott, mein Gott, er war der gute Sohn, und ich habe das erst gemerkt, als es zu spät war.« Er klammerte sich mit schwacher Hand an meinen Ärmel. »Was Ihr auch immer macht, sagt Hugo nicht, daß Ihr schwanger seid. Falls ich sterbe, so flieht – Ihr müßt fort von hier, ehe das Kind geboren ist. Versteckt es. Hugo ist zum reißenden Wolf geworden. Der Gedanke an Geld hat ihm den Kopf verdreht. Ich weiß Bescheid. Ich sehe jetzt ganz klar. Zu klar, jetzt, da es zu spät für alles ist, außer für bittere Reue.«
    »Bittere Reue, äh?« sagte Master Kendalls Geist um Mitternacht. »Billiges Geschwätz. Davon gibt's reichlich, wo ich jetzt bin.« Seine körperlose Stimme schwebte in dem dunklen Raum über dem Bett. Er lachte leise in sich hinein. »Irgendwie bin ich dankbar. Gott hat mich lange genug leben lassen, daß ich mein Leben noch ändern konnte. Ich habe dich getroffen, Margaret, und ich habe alles, was dann kam, nie bereuen müssen – außer daß mir zu wenig Zeit an deiner Seite blieb. Weh mir, also bereue ich am Ende doch. Ich bereue meine Habgier, daß ich dich für immer besitzen wollte. Aber du brauchst einen lebendigen Mann, Margaret. Du kannst nicht nur mit einem kalten Geist leben. Laß uns Pläne für deine Suche schmieden.«
    »Ach, Master Kendall, ich bin Euch stets dankbar für Eure Klugheit gewesen.« Das diesige Ding schien sich zu freuen – selbst noch in der Dunkelheit konnte ich die Bewegung spüren.
    »Ich bin zwar tot«, sagte er fröhlich, »aber dumm bin ich nicht.«
    Doch in den darauffolgenden Tagen, während wir das Brautpaar erwarteten, starb der alte Sir Hubert nicht an seiner bitteren Reue, ganz im Gegenteil, es ging ihm besser, auch wenn er nicht wollte. Seine Gesichtsfarbe wechselte von Grau zu hellem Elfenbein, und zuweilen, wenn das Fieber anstieg, waren auf seinen Wangen zwei fiebrige, rote Flecken zu sehen. Als das Horn am Tor erklang, befahl er, ihm Kissen in den Rücken zu stopfen und ihn aufzusetzen, damit er die junge Braut begrüßen konnte, worüber der Hausverwalter und der Dicke Wat, wie auch das übrige Gesinde des Herrenhauses hoch erfreut waren. Ein schöneres Paar hatte die Welt noch nicht gesehen, als sie da vor

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