Die Vision
ich habe gehört – oder meine, gehört zu haben – ich erinnere mich wohl nicht mehr so recht daran – aber –«
»Ja?«
»Was er damals gerufen hat, soll sich so ähnlich angehört haben wie ›Ihr Scheißkerle, mein Manuskript!‹«
Und da wußte Margaret auf einmal, daß keine Hoffnung mehr bestand. Er war wirklich von ihr gegangen. Sie hatte immer noch gehofft, es wäre alles ein Irrtum. Und sie war sich so sicher gewesen, daß eine Verwechslung vorliegen mußte – und war sich im Verlauf von Hugos Geschichte immer sicherer geworden. Aber Robert – nein, das war Gregory, wie er leibte und lebte, oder besser, wie er starb. Sie legte die Hand aufs Herz, um dessen furchtbares Hämmern zu beschwichtigen.
Hugo griff rasch ein, er wollte Roberts Entgleisung vertuschen. »Der Herzog hat Gilberts Mut und gute Dienste gelobt und sagt, daß er ihm das nie vergessen wird. Er schickt Euch ein Andenken von ihm. Ihr müßt verstehen, daß er die Aufzeichnungen über den Feldzug, die Gilbert gemacht hat, behalten möchte. Seine Rüstung und seine persönliche Habe haben wir mitgebracht.«
Robert hatte das Kästchen geholt und reicht es stumm Hugo. Hugo wiederum gab es an Margaret weiter. Margaret hätte es am liebsten gar nicht geöffnet. Wer wußte, ob darin nicht die verschrumpelten Reste eines menschlichen Herzens lagen, dessen durchtrennte Adern wie Krötenmäuler klafften. Gregorys Herz, ein kaltes, abstoßendes Ding. Das Ende in jeder Hinsicht.
Sie öffnete das Kästchen und warf einen sehr vorsichtigen Blick hinein. Auf den ersten Blick nichts Gräßliches. Dann etwas Weißes – Papier. Sie öffnete es ganz.
»Das ist das Blatt, an dem er in jener Nacht schrieb«, erklärte Robert und genoß die Dramatik des Augenblicks.
Margaret entfaltete es. Ein Gedicht, nein, der Anfang eines Gedichtes. Es war in Französisch abgefaßt.
»Margaret mit den weißen Händen«, so ging es, »du meine Herzenskönigin« – und dann kam ein Klecks. Ein großer, rechteckiger Klecks, wo die Feder hastig hingelegt worden war. Und auf einmal sah sie alles vor sich, so wie es sich in jener Nacht abgespielt haben mußte, denn es gab so gut wie nichts auf der Welt, was Gregory zu einem Klecks verleiten konnte, es sei denn der Tod höchstpersönlich.
Und er hat mich doch geliebt, wirklich geliebt, dachte sie, als ihr die Sinne schwanden. Er mochte es nicht sagen, also hat er es geschrieben. Und mein Brief – der hat ihn nicht mehr erreicht, und so hat er nie erfahren, daß ich –
Als ihre Knie nachgaben, fing Robert sie auf, während Hugo jemand zu Hilfe rief.
An diesem Abend kniete Margaret wie gewohnt in der Kapelle, um für Master Kendall zu beten, und da fügte sie gleich Gebete für Gilbert de Vilers an. Der unsägliche Gram drückte ihr fast das Herz ab, und ihr schwindelte, so unsäglich ängstigte sie sich vor einer furchtbaren Zukunft. So wenige Monate und so gräßliche Veränderungen. So fern von Freunden und daheim. So allein. Und ihre Mädchen – wer würde jetzt schützend die Hand über sie halten? Und Gregory, ihre Liebe, ihre große Liebe, der war auf ewig dahin, und seine Gebeine verwesten in fremder Erde. Und sie hatte es nicht geschafft, ihm zu sagen, wieviel er ihr bedeutete. Die Trauer darüber schnürte ihr das Herz zusammen.
»Lieber Gott, hilf mir«, sagte sie bei sich. Das geisterhafte Schluchzen, das ständig durch die Steine der Kapelle wehte, hörte auf.
»Ei, jetzt habt Ihr auch etwas zum Beweinen«, wisperte die gehässige Stimme der Weißen Dame.
Am nächsten Morgen schickte Sir Hugo Robert frisch gebadet und prächtig anzusehen in seinen neuen Kleidern mit zwei Begleitern in Livree nach Poultney Manor in Leicestershire, wo die drei unverehelichten Töchter und der jüngste Sohn von Sir Walter de Broc den Sommer verbrachten. Sie sollten die Älteste, die mit der größten Mitgift, in Augenschein nehmen, und, wenn sie ihnen von Gesicht und Gestalt zusagte, Sir Hugo de Vilers' Kommen ankündigen, sobald ihr Vater wieder im Lande wäre, damit man den Ehevertrag abschließen könne. Sie sollten der Familie ausrichten, daß Sir Hugo, sollten die finanziellen Vereinbarungen befriedigend ausfallen, sich gemäß dem Wunsch seines sterbenden Vaters und der Vorverhandlungen mit Sir Walter im vergangenen Frühling in Calais, sofort mit ihr zu verloben und zu vermählen wünschte.
»Erst fünfzehn und so rein wie eine Lilie, Robert, nicht auszudenken.« Hugo tat verliebt bis über beide Ohren; er
Weitere Kostenlose Bücher