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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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entlangtastete, verflog der letzte Rest von Schläfrigkeit.
    Auch in der Kapelle war es dunkel, doch durch die Fenster fiel blasser Mondenschein und machte, daß die frische, weiße Tünche matt erstrahlte. Über dem Altar war das Jüngste Gericht mit ›diesen ganzen Figuren‹ nur ein dunkler Schatten. Durch die schmalen Bogenfenster konnte man einen Blick auf die kalten Sterne erhaschen, die hoch oben am Himmelszelt funkelten. Die Welt kam mir so leer und kalt vor.
    Ich stand auf Zehenspitzen vor der hohen, steinernen Fensterbank und betrachtete die dunkle, stille Welt. »Oh, lieber Gott«, flüsterte ich in das Schweigen. »Wo bist du jetzt? Du hast mich hier alleingelassen, ich bin verloren.« Vermutlich erwartete ich eine Antwort von Gott. Zuweilen antwortete er nämlich. Aber man weiß nie wann. Das hat etwas mit Logik zu tun – Seiner Logik, und die ist für mich zu hoch, als daß ich sie nach vollziehen könnte. Und ohnedies verstehe ich nur die Hälfte aller Antworten. Doch in dieser Nacht antwortete niemand. Unter mir raschelten die Schatten der Bäume in der nächtlichen Brise, und ich blieb völlig allein.
    »Ihr wollt ausrücken, wie?« Ach, die hatte mir noch gefehlt. Mitten in einer spirituellen Krise hatte ich eine Weiße Dame am Hals. Nein, nicht einmal hier hat man ein Privatleben.
    »Ich weiß, daß Ihr ausrücken wollt. Das erkenne ich daran, wie Ihr aus dem Fenster starrt und die Dinge in Eurer Truhe durchzählt. Das habe ich einst auch getan. ›Ich gehe heim zu meiner Mutter‹, sagte ich dann wohl, und er gab zurück ›Ich schlag Euch so zusammen, daß Ihr keinen Schritt mehr über die Schwelle da tun könnt‹. Ihr habt ja keine Ahnung, wie ich den Anblick genossen habe, wenn er unten im Palas so geschrien und gelitten hat. Wenn Ihr ausrückt, stirbt er und fährt zur Hölle, und das wäre mir eine sehr große Genugtuung – außer daß dann sein kleines Ebenbild, Hugo, der Ritter ohne Fehl und Tadel, an seine Stelle tritt, und das Vergnügen gönne ich ihm nicht.«
    Eine sehr leidige Sache, mitanhören zu müssen, wie jemand derart Engstirniges äußert, wenn man über große Probleme nachdenkt wie beispielsweise die Frage, warum Gott schweigt, und obendrein noch große persönliche Schwierigkeiten bereinigen will.
    »Ihr wollt mit dem rauchigen, alten Krämer fort. Ich habe gelauscht. In Ordnung, ich möchte auch weg von hier. Wenn er erst in der Hölle ist und Hugo herrscht, dann ist es hier nicht mehr interessant. Was soll ich dann noch hier? London würde mir zusagen. Da schaue ich dann in die Wiegen wie alle anderen Weißen Damen.«
    Das hatte mir gerade noch gefehlt.
    »Ihr wollt mich nicht mitnehmen, wie? Nicht sehr zuvorkommend für eine Schwiegertochter. Oh, entsetzt Euch nicht. Ihr habt Euch eingebildet, ich wäre so dumm wie all die anderen Weißen Damen. Ist Euch nicht aufgefallen, daß er den hellen Kopf von mir hat – nicht von der zusammengeschrumpelten alten Mumie da unten im Bett. Ich weiß sehr wohl, er ist mittlerweile erwachsen. Jungen sind wie kleine Kätzchen. Sehr niedlich, solange sie klein sind, häßlich, wenn sie groß sind. Es hat ein Weilchen gedauert, bis ich ihn erkannt habe – hat nur noch wenig von einem Kätzchen an sich. Doch die Nase ist ganz unverkennbar. Sehr elegant. Eine lange, normannische Nase genau wie meine und die meines Vaters. Und im Kopf ganz konfus und undankbar für alles Gute – ein Mann eben –, Ihr könnt ihn meinetwegen haben. Ich hatte ihn, als er noch niedlich war. Außerdem braucht er jemand mit gesundem Menschenverstand, der sich um ihn kümmert. Er selber besitzt davon nicht viel, und dabei habe ich mir soviel Mühe gegeben. Nein, Ihr braucht mich auf der Reise. Insbesondere wenn Ihr vorhabt, nach ihm zu suchen.«
    »Damit kann ich jetzt nichts anfangen – heute nacht nicht. Merkt Ihr denn nicht, daß ich leide? Liegt mir morgen damit in den Ohren, ja?«
    »Morgen? Morgen ist es zu spät. Nein. Morgen früh müßt Ihr Euch die Schühchen aus Dachsleder, die mit den Löchern, in einem Beutel um den Hals hängen. Die gehören nämlich ihm. Ich habe sie selbst gemacht. Aus einem Kind mit Dachslederschuhen wird stets ein großartiger Reiter. Wenn Ihr die umgebunden habt, kann ich Euch überallhin folgen, genau wie der aufdringliche Krämer da Eurem Psalter bis hierher, in meine schöne Kapelle, gefolgt ist.«
    »Aber – aber –«
    »Kein ›aber‹ Wißt Ihr denn nicht, daß man Geister nicht verärgern darf? Ich könnte Euch

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