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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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es mir als Hochzeitsgeschenk. Ei, wie unliebenswürdig von Euch.«
    »Hübsch – pa!« rief sie aus. »Ich habe mir den Finger verbrannt.« Sie steckte den Finger in ihr süßes Schmollmündchen und lutschte daran. »Damit stimmt etwas nicht.«
    »Das tut mir aber leid, liebwerte Schwester. Es muß eine Mücke gewesen sein. Seht Ihr? Die kleine Alison faßt es an, ohne Schaden zu nehmen.« Und dabei beugte ich mich vor und wollte es vorführen. Als sie Alison von oben herab ansah, huschte ein frostiger Ausdruck über ihr Gesicht.
    »Liebwerter Gemahl, stellt mich doch bitte den übrigen Gästen und der Familie vor«, sagte sie lächelnd, und er führte sie an der erhobenen Hand, seinen Zeigefinger auf ihrem Zeigefinger, elegant wie am französischen Hof, den Nachbarn und deren Ehefrauen zu.
    »Eine Dame, eine richtige Dame«, hörte ich das Gesinde hinter mir murmeln.
    »Wie elegant, wie ritterlich, wie bezaubernd!« konnte ich die Gäste flüstern hören, während das schöne Paar im Raum die Runde machte. Sobald mich niemand mehr beobachtete, lief ich nach oben, um mich auszuweinen. Der Söller stand voller Gästebetten, wie jeder Raum im Haus. Die Kapelle, die in ihrem neuen Glanz strahlte, war mit Blumen geschmückt, und Vater Simeon lag sich dort bereits mit dem kleinen Franziskaner in den Haaren, den sich Lady Petronilla als Beichtvater mitgebracht hatte. So blieb mir nichts anderes übrig, als mich unter der Turmstiege bei den Ratten zu verstecken und zu weinen, bis keine einzige Träne mehr kam.
    Als ich in jener Nacht allein im Dunkel meines Bettes lag, weckte mich ein furchtbarer Schmerz im Unterleib. War es ein Traum oder war es keiner? Ich schlug die Augen auf, und da starrten mich die scheußlichen, roten Augen einer furchtbaren Schlange an.
    »Hebe dich hinweg!« sagte ich.
    »Hinweg?« sagte sie und lächelte dazu so gräßlich, wie es nur Schlangen vermögen, und züngelte mit ihrer gespaltenen Zunge. »Du meinst hinaus, nicht wahr?« Ich erblickte ihre glänzenden grünen und roten Schuppen und sah die Schlingungen ihres Leibes. Kein Wunder, daß es so wehtat – sie hatte ein großes Loch in meinen Unterleib genagt, und aus der tiefen Wunde quoll Schlinge um Schlinge.
    »Herr, erbarme dich!« schrie ich – oder schrie ich doch nicht, da niemand im Raum aufwachte?
    »Gott? Du rufst nach Gott? Der ist sehr fern, wo ich bin«, zischelte das abscheuliche Ungeheuer und wand sich, daß mich der Schmerz fast zerriß.
    »Wer oder was bist du?«
    »Ich bin der Neid, liebwerte Schwester, und ich habe deine Gedärme aufgefressen. Wenn ich damit fertig bin, fresse ich dein ganzes Herz, und dann stirbst du.« Ich schrie, schrie stumm, wieder und wieder. Wie war dieses Ungeheuer nur über mich gekommen? Ich wußte es. Es war geschehen, als Truhe um Truhe ins Haus getragen wurde, bis die Dienstboten nur so staunten. Es war geschehen, als die schönen Windhunde, die sie mitbrachte, von jedermann bewundert wurden, selbst vom alten Lord. Und als ihr Kaplan das große Brautbett, das ihr der Vater mitgegeben hatte, mit Weihwasser besprengte und ihre alte Amme ausrief: »Meine kleine Rose! Mein schönes Herzblatt! So sind wir denn bald Frau, große Dame und Herrin im eigenen Haus!«
    Ja, da hatte ich ihm Einlaß gewährt. Traum hin, Traum her, es fraß mich bei lebendigem Leibe auf. Wie sollte ich das scheußliche Ding nur wieder loswerden? Ich beugte mich über die Bettkante und erbrach mich ins Nachtgeschirr, und der saure Geschmack im Mund erinnerte mich daran, als ich aufwachte. Ich stand im Dunkel auf und tastete auf dem Haken nach der großen, weichen robe de chambre, die mir der alte Lord geschenkt hatte, und hüllte meine Blöße darin ein. Hinter einer Wolke kam ein Mondstrahl hervor. Meine Mädchen – wer würde sie vor Hugos Habgier beschützen, wenn der Neid mir das Herz auffraß? Wer würde das Kleine beschützen? Wer würde Gregory suchen? Auf Zehenspitzen schlich ich zu meinen schlafenden Mädchen, nur um ihren Atem im Dunkel zu hören – und der ging fast im Geschnarche von Mutter Sarah unter, die auf dem Strohsack auf dem Fußboden neben ihnen schlief.
    Geräuschlos ging ich durchs Zimmer zur Turmtür und stieß diese ganz, ganz langsam auf, damit sie nicht quietschte. Ich würde in die Kapelle gehen und Gott bitten, mich von der furchtbaren Schlange zu erlösen – es mußte sein, sonst starb ich noch hier in diesem entsetzlichen Haus. In der kalten Luft des Turmaufgangs, wo ich mich an der Wand

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