Die Vision
nicht mehr weh.
»Fort«, sagte ich.
»Das dachte ich mir. Und jetzt nehmt Ihr mich mit. Sehr klug von Euch, daß Ihr fliehen wollt. Aber Ihr müßt Euch davonstehlen. Sie mögen Euch zwar nicht, aber jemand anders soll Euch auch nicht haben. Das würde ihnen bei ihren Besitzansprüchen in die Quere kommen. Für Euch gibt es nur Tod oder Gefängnis oder das Kloster. Ich weiß Bescheid. Eine meiner Basen mußte einst den Schleier nehmen. Und das Kloster, in das man sie steckte, war ein besseres Gefängnis. Ihre hübschen Haare, alle abgeschoren. Ich selber hätte mir nie die Haare abscheren lassen, auch wenn sie zuweilen lästig waren. Aber Ihr habt selbst Schuld. Was mußtet Ihr einen reichen Mann heiraten und ihn überleben. Wie um alles auf der Welt hat dieser gräßliche, alte Krämer es nur geschafft, mehr anzuhäufen als ein Ritter? Nein, wie degoutant, durch Handel zu Geld zu kommen.«
»Statt es zu stehlen wie ein Edelmann?«
»Genau«, sagte die Weiße Dame.
Als der Morgen durch die hohen Fenster des Söllers graute, kam ich den Wünschen der Weißen Dame nach, faltete die Schühchen zusammen und steckte sie in ein kleines, rechteckiges Amulett, das ich mir unter meinem Überkleid an einer Kette um den Hals hing. Doch kaum hatte sich der Hahn ausgekräht, da kamen die Mädchen auf der Suche nach mir heulend und mit Mutter Sarah im Gefolge angelaufen.
»Mama, Mama, sie hat Alison einfach so geschlagen«, rief Cecily.
»Und als ich sie daran hindern wollte, Mistress, da hat sie mir eins mit der Reitpeitsche übergezogen, die sie immer dabei hat. Hat gesagt, ich wüßte nicht, wo mein Platz ist«, schniefte die furchteinflößende Mutter Sarah und verdrückte eine Träne.
»Sie ist jetzt die Herrin, und ich kann gar nichts tun. Geht ihr einfach aus dem Weg, bis ich mir etwas ausgedacht habe«, sagte ich.
Doch später hörte ich, wie sich Mutter Sarah hinter dem Wandschirm im Palas beim Dicken Wat beschwerte, als dieser dem alten Lord das Gesicht wusch. »Die ist zu jung für eine Herrin, diese gehässige, kleine Katze. Der Teufel hole sie.«
»Gewöhn' dich dran, Sarah. Sie ist die Herrin im Haus«, erwiderte der Dicke Wat. »Aber« – und dabei hörte ich den alten Lord stöhnen, denn Wat hob ihm den Kopf, daß er trinken konnte – »der Herr ist sie nicht… und er auch nicht.«
»Die Kinder, Mutter Sarah, wo sind die Kinder?« platzte ich in die kleine Szene hinter dem Wandschirm. Wat schob gerade die Kissen zurecht und zog die Bettdecke hoch, damit es der alte Lord bequemer hatte; er hatte ihn getreulich auf jedem Feldzug begleitet, selbst auf diesem hier gegen den Tod. Er hatte nicht an mir gezweifelt, als er gemerkt hatte, welche Veränderung ich bewirkte, sondern hatte mich ausgefragt, weil er alles wissen wollte, was seinem Herrn dienlich sein könnte. Jetzt blickten wir uns an und verstanden uns ohne Worte. Wir hatten beide schlimme Zeiten durchgemacht und wußten, was getan werden mußte. Mutter Sarah blickte ihn groß an und rang die Hände. So konnte ich sehen, daß einer der Striemen, da wo der Hieb die bloße Haut ihrer Hand getroffen hatte, blutig war. Sie hatte das Gesicht mit den Armen schützen wollen. Und sie war immer noch so verstört, daß ich ihr nicht gram sein konnte.
»Mutter Sarah, die Mädchen?«
»Oh, Mistress, dahinten in der Ecke doch, sie spielen mit Puppen.«
»Ich sehe sie nicht.«
»Oh, liebe Mistress, sie sind weg!« Und schon suchten wir vom Dachboden bis zum Keller nach ihnen, doch ohne Erfolg bis zum Vormittag. Als die Schragen fürs Essen aufgestellt wurden, fand ich sie oben und mit eigenartigen sauberen Händen und Gesichtern. Alisons Kleid war vorn tropfnaß.
»Was um Himmels willen macht ihr? Wo seid ihr gewesen?«
»Wir waschen uns«, sagte Cecily. »Alisons Kleid war ganz klebrig, da haben wir es gewaschen.«
»Ja – kleber, kleber, klebrig. Ist gut gewaschen«, zwitscherte Alison.
»Und wie ist es so klebrig geworden?« Aber ich hatte die Frage gerade gestellt, da kündeten drei Hornstöße vom Tor einen Besucher an – einen Besucher von hohem Stand.
»Bitte, Mama, laß uns gucken!« rief Cecily, und damit wollte sie mich wohl ablenken, wie mir hinterher klar wurde. Und da ich nicht mehr zur Eingangstür laufen mußte, um die Besucher zu empfangen, eilten wir zur Fensterbank über dem Haupteingang und spähten hinaus.
Fürwahr, das war ein erstaunlicher Zug, der da den Burghof überquerte. Fremde – wohlhabende Pilger, so dünkte mich, die
Weitere Kostenlose Bücher