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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Schlimmes antun. Statt dessen tue ich Euch einen Gefallen, damit Ihr merkt, es ist mir ernst. Ich weiß, daß Ihr eine große Schlange habt. Oh, schaut nicht so erstaunt. Ich habe sie gesehen. Ich hatte auch eine, damals, als meine Schwester einen vornehmen Edelmann in Brabant heiratete. Mein Gott, war der gelehrt und fromm und gut. Reichtümer besaß er zuhauf, und meine Schwester ging in Samt und Seide und brauchte nicht den kleinen Finger krummzumachen. Und dann stellte sich heraus, daß er einen Buckel hatte, da konnte ich wieder ihre Freundin sein. Familie ist eben Familie – ohne sie geht es nicht. Ich hörte, daß keines ihrer Kinder gesunde Gliedmaßen hat. ›Was für ein Jammer‹, schrieb ich ihr, ›aber wenigstens sind sie im Kopf gesund, und das ist mehr, als ich von meinen sagen kann.‹ Also – wenn ich die Schlange vertreibe? Nehmt Ihr mich dann mit?«
    »Ja, wenn es Euch gelingt.« Das Ding bewegte sich schon wieder, und der Schmerz würde mich noch umbringen, wenn ich sie nicht bald loswurde.
    »Folgt mir und spitzt die Ohren«, sagte die Weiße Dame. Ich ertastete mir im Dunkel den Weg hinter dem Geraschel, das sie machte, hin zu dem Zimmer, das an die Kapelle grenzte. Das große Zimmer des Sieur de Vilers, welches nun von Sir Hugo und seiner jungen Braut bewohnt wurde. Durch die Tür drangen gedämpfte Laute.
    »Legt Euer Ohr an die Tür – schließlich könnt Ihr nicht durch sie hindurch wie ich. Keine Bange, ich halte Wache – Ihr werdet schon nicht erwischt«, sagte die Weiße Dame.
    Und dann hörte ich Folgendes.
    »Wach auf, wach auf – ich will noch einmal.«
    »Mm. Nein. Du hast mir wehgetan«, antwortete eine schmollende Stimme. »Jetzt kann ich einen Monat lang nicht auf die Jagd gehen.«
    »Du solltest stolz sein: Wenn man morgen das Bettlaken herumzeigt, wird dich jedermann preisen.«
    »Stolz worauf? Daß ich alles für diese schäbige Kate aufgegeben habe? Du hast mir geschworen, daß wir in London wohnen.«
    »Und das werden wir auch –«
    »Au! Au! Runter! Nimm dich in acht, ich bin keine deiner Bauerndirnen.« Und dann hörte man ein Klatschen, als Fleisch auf Fleisch traf.
    »Du kleines Biest – das hast du nun davon, daß du mich gekratzt hast. Wehe, du tust das noch einmal, dann schlage ich dir die Nase ein. Und dann ist es aus mit deiner allseitigen Beliebtheit.«
    »Faß mich nicht an, oder ich gehe heim zu Vater. Du hast ihn hinters Licht geführt. Dein Herrenhaus ist eine Bruchbude, und dein Vater liegt gar nicht im Sterben, wie du gesagt hast.«
    Dann hörte ich einen Schrei, der durch ein Kissen gedämpft wurde. Dann ein Aufstöhnen und ein leises Luftholen. »Dafür läßt dich mein Vater umbringen.«
    »Nicht dafür, daß ich mir mein eheliches Recht nehme, o nein – der fragt nur nach den Einzelheiten.« Man hörte ein häßliches Auflachen, gefolgt von einer Art Schluchzer.
    »Du wirst ganz schön dumm dastehen, wenn sich herausstellt, daß du nicht wie versprochen noch vor Weihnachten Lord von Brokesford bist, und einen Rechtstitel auf den Besitz deines Bruders hast du auch nicht«, sagte eine beleidigte Stimme.
    »Das kannst du ihm ruhig erzählen, aber dann ruinierst du dich ebenso wie mich. Du und dein lieber Papa, ihr wollt Euch doch wohl nicht zum Gespött der Leute machen, oder? Es ist zu spät, die Ehe ist vollzogen; du tust gut daran, eine pflichtbewußte Ehefrau zu sein und mir Söhne zu werfen. In London und im Luxus kannst du immer noch leben.«
    »Dann schaffe mir diese käsebleiche Wittib vom Hals. Ich kann sie nicht ausstehen. Sperre sie irgendwo ein – im Keller, im Kloster. Hauptsache, sie kommt mir nicht mehr unter die Augen. Und ihre gräßlichen Bälger auch nicht. Versprich mir das und tu es sofort, dann weiß ich, daß du es ernst meinst.«
    »Diese gräßlichen Bälger sind Gold wert. Aber es ist meine Sache, wann und wo ich mich ihrer entledige.«
    »Bald, versprich mir das, dann will ich auch lieb sein, mein Herr und Gebieter.« Das waren die quengelnden, schmeichlerischen Worte eines hinterhältigen Kleinkindes.
    »Das hört sich schon besser an.«
    »Morgen?« Auf einmal klang der Ton scharf und befehlshaberisch.
    »Willst du mich zwingen? Ich sage dir, ehe du nicht begreifst, daß ich hier alle Entscheidungen treffe, schlage ich dich, bis dein Vater dich nicht wiedererkennt –«
    »Ein glückliches Paar, wie?« flüsterte die Weiße Dame recht boshaft. »Was macht Eure Schlange?« Ich befühlte meinen Bauch. Er tat überhaupt

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