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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Über diesem kleinen Königreich paradierte und stolzierte oben auf dem Dach des Eselstalls Mutter Hildes großer Hahn, das eitelste Geschöpf unter der Sonne, hatte seine Hennen hinter dem Flechtzaun im Auge und brachte ringsum seine Schwanzfedern zur Geltung. Im Schuppen konnte ich Peter, Mutter Hildes letztes, ihr verbliebenes Kind, das nicht ganz richtig im Kopf ist, beim Stallsaubermachen unmelodisch summen hören.
    Unter ihrer großen Schürze trug Mutter Hilde ein formloses, graues Kleid – die Schürze war weiß wie ihr Kopftuch, und ich sah, daß sie ihre alten Holzpantinen anhatte. Ein kleiner Hund wie ein Haarball, denn er war vorn und hinten fast gleich anzusehen, zockelte hinter ihr her. Das war mein Hund, der Löwenherzige oder kurz Lion genannt, weil er so große Heldentaten vollbracht hatte. Den hatte ich zurücklassen müssen, als man mich so jäh entführte, und er mußte schnurstracks zu Mutter Hilde gelaufen sein, denn das tut er immer, wenn man ihn ins Freie läßt.
    »Mutter Hilde!« rief ich, und als sie sich umdrehte, tat Lion einen großen Freudensatz und kam wild bellend auf mich zugesprungen.
    »Ei, Margaret!« rief Mutter Hilde freudestrahlend. »Da bist du ja wieder! Ich habe gewußt, daß du kommst. Da sieh mal. Ich habe Lion für dich gehütet. Er ist gleich hierhergelaufen, als du so plötzlich verschwunden bist.« Während Lion an mir hochsprang und mit dem ganzen Leib wedelte, fielen wir uns dort, mitten zwischen den Kohlköpfen, in die Arme, und ich fing vor Freude und Erleichterung über unser Wiedersehen an zu weinen.
    Sie trat auf Armeslänge zurück und musterte mich eingehender. Ihre Miene wurde ernst.
    »Was ist los, Margaret? Um deine Schultern ist etwas Kaltes und Dunkles, und dein Kleid ist vorn ganz ausgebeult, so als ob du mit deiner ganzen Habe geflohen wärst. Und wo ist Bruder Gregory? Ich dachte, du hättest ihn geheiratet.«
    »Das Kalte sind Geister, Mutter Hilde, und Bruder Gregory ist in Frankreich und gilt für tot.«
    »Geister? Du lieber Himmel, das klingt ernst. Komm herein und erzähl mir alles«, sagte Mutter Hilde.
    »Nun, was hältst du von unserem schönen, neuen Zimmer, Margaret?« fragte Mutter Hilde, während sie den Inhalt ihres Kochtopfes überprüfte und mir einen Becher Ale einschenkte. »Ist es nicht prächtig? Das hat Malachi für uns eingetauscht.«
    »Wofür eingetauscht, Mutter Hilde?«
    »Ach, für das Lebenselixier«, sagte Mutter Hilde und rührte einmal um. »Sir Humphrey hat es sehr geholfen, und er hat seinen eigenen Maler den ganzen Weg von Dorsetshire hierher machen lassen.«
    Mir blieb die Luft weg, ich machte große Augen und legte die Hand auf den Mund, der vor Staunen offenstand. Er trieb Handel mit dem Landadel? Malachi wurde unglaublich waghalsig. Ich merkte, daß Mutter Hilde von ihrem Kochtopf aufblickte und mich mit diesem belustigten, nachsichtigen Blick ansah, den sie immer bekommt, wenn ich mich entsetze.
    »Mutter Hilde, was, glaubst du, macht Baron Humphrey, wenn er merkt, daß das Elixier nicht hilft? Kaum jemand in der ganzen Christenheit ist so übel beleumdet wie er.«
    »Na ja, zunächst ist er nur auf Besuch da und kommt wahrscheinlich ein Weilchen nicht zurück, da er ins Ausland wollte. Und zweitens hat ihm Malachi gesagt, daß es gegen Waffen nichts hilft – nur gegen einen natürlichen Tod. Wer ein so böses Leben führt wie Sir Humphrey, so sagt er, wird ohnedies eines Tages von seinen Erben gemeuchelt. Und so, sagt Malachi, bekommen wir keine Unannehmlichkeiten, solange er das Lebenselixier nur an Männer verkauft, die voraussichtlich nicht im Bett sterben.«
    »Aber was war drin, daß Sir Humphrey so von seiner Wirkung überzeugt ist?«
    »Weißt du noch, das aqua ardens , das Malachi gegen Husten hergestellt hat? Es macht im Handumdrehen stockbetrunken.«
    »Oh, Mutter Hilde, Bruder Malachi ändert sich auch nicht mehr, wie?«
    »Das kommt daher, weil er ein Genie ist, liebes Kind«, sagte Mutter Hilde stolz.
    Und dann mußte ich ihr alles erzählen, was ich seit jenem Tag erlebt hatte, als Sir Hubert und seine Gefolgsleute bis an die Zähne bewaffnet in mein Besuchszimmer platzten und meine bösen Stiefsöhne als Hackfleisch auf dem Fußboden zurückließen. Als meine Geschichte endete, dunkelte es bereits, und der gesamte Haushalt, die fremde Frau also, ihre Tochter, Peter und der alte Hob, unser Mädchen für alles, hatte sich um uns geschart und hörte schweigend zu.
    »Ich brauche ihn so, Mutter

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