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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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meldete sich ein unsicheres Stimmchen. Es war Bet, das kleine Mädchen mit den fröhlichen, braunen Locken und dem spitzen, ernsthaften Gesicht.
    »Wir möchten es gern sehen, bitte, wir haben soviel davon gehört.« Wortlos zog ich das Brennende Kreuz hervor, das im Feuerschein ganz rötlich glänzte.
    »Oh«, seufzte das Mädchen. »Ist das aber schön. Eines Tages möchte ich auch Wehmutter werden wie Ihr.«
    »Nun, nicht ganz genau wie ich, sonst landest du noch vor dem Bischof – und das kann sehr unangenehm sein.«
    »Und morgen«, sagte Mutter Hilde, »morgen gehe ich selber zu deinem Haus und sehe nach, ob Hugo schon dagewesen ist – aber jetzt ins Bett alle miteinander. Margaret hat morgen noch viel Zeit, Fragen zu beantworten.« Und da es an Platz mangelte, nahm sie uns alle mit in ihr großes Bett im Vorderzimmer, das Ihr und Malachi gehörte.
    Als sie aber die Decke zurückschlug, zupfte sie Cecily mit Verschwörermiene an der Schürze. »Mutter Hilde«, flüsterte sie. »Laß Alison nicht ins Bett. Sie macht naß.«
    »Tu ich nicht, das bist du!« piepste Alison empört.
    »Kinder, Kinder, in Mutter Hildes Bett macht niemand naß. Ihr schlaft auf der Seite mit dem Nachttopf und vergeßt nicht aufzuwachen, wenn ihr müßt. So wird das in meinem Haus gemacht.« Sie sprach so bestimmt, daß es einfach so sein mußte, und so war es denn auch.
    »Papa erzählt uns heute keine Geschichte, tust du das?«
    »Papa?« sagte Mutter Hilde fragend und bat mich mit den Augen um eine Erklärung.
    »Master Kendalls Geist hat ihnen Gutenachtgeschichten erzählt.« Mutter Hilde nickte.
    »Klingt einleuchtend«, sagte sie. »Als er noch lebte, hatte er keinen Augenblick Zeit für sie. Ei, was mußt du durchgemacht haben, so ganz allein auf dem Lande und bei dieser fremden Familie.« Darauf erwiderte ich nichts. Dann begann Mutter Hilde mit der Geschichte von den klugen Tieren, welche die Räuber verjagten, doch ehe sie noch halb damit fertig war, schliefen die Mädchen schon engumschlungen. Die Geschichte war wirklich einschläfernd. Ich lag da und lauschte Mutter Hildes Stimme, dem vertrauten Knarren des Gebälks in dem alten Haus und Lion, wie er im Schlaf am Fußende des Bettes wuff machte. Die Augen wollten mir zufallen, doch da sagte Mutter Hilde: »Du liebst ihn schrecklich, wie?«
    »So sehr, daß es mir schier das Herz bricht«, flüsterte ich ins Dunkel.
    »Lieben, oh, das ist keine leichte Sache. Malachi ist nicht die erste, aber die größte Liebe meines Lebens. Und die letzte, bis man mich begräbt – hoffentlich an seiner Seite. Ich habe nämlich einen langen Weg mit ihm zurückgelegt. Hierher, in diese Stadt, in dieses andere Leben. Und du hast einen noch viel längeren vor dir, wenn du deinen Gregory wiederhaben willst – du mußt alles wagen.«
    »Ich weiß, Mutter Hilde. Und ich fürchte mich sehr. Aber die Liebe treibt mich voran. Ich kann nicht anders.«
    »Oh, Margaret, es wird ein schwerer Weg. Eine liebende Frau muß bereit sein, ferne Stätten aufzusuchen. Und nicht alle sind – wie würde Malachi es ausdrücken? – auf der Landkarte zu finden.«
    »Aber du hilfst mir doch?«
    »Natürlich, Margaret. Bislang habe ich Liebende in Not noch nie abgewiesen.«

    Und bereits am nächsten Morgen, während Mutter Hilde auskundschaftete, ob sich in der Gegend um Margarets Haus am Fluß geheimnisvolle Fremde, darunter auch Sir Hugo, herumtrieben, ging Margaret mit ihren kleinen Mädchen und ihrem Hund auf den Fersen zum Hafen. Sie wollte sich erkundigen, welche Schiffe letztens vom Kontinent gekommen waren und wer von den großen Häfen Dover und Southampton zu Pferd durchgezogen war. Denn eines wußte sie: Früher oder später mußte Kunde von allem und jedem in London eintreffen, denn London war was Klatsch anbetraf der Nabel des gesamten englischen Königreichs.
    »Da, sieh mal, Mama!« Alisons Stummelfinger wies auf einen interessanten Anblick auf dem Kai. Eine fremdländische Galeere dümpelte sacht vor Anker, während man sie belud. Ein wieherndes, schwarzes Pferd mit Scheuklappen zappelte in einer Schlinge, denn es wurde an Seilen und Flaschenzügen in den Laderaum der Galeere gehievt. Zwei kräftige Männer hielten ein weiteres schwarzes Pferd, das letzte des Gespanns auf dem Kai, während ein Knabe ihm die Scheuklappen umband. Hinter dem Pferd zog ein reich geschnitzter und verzierter Wagen die Aufmerksamkeit einer Schar von staunenden Gassenjungen und Herumstreunern auf sich. Der Hauptmann der

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