Die Vision
verstanden, was er meinte.« Beim Gedanken an jenen Tag kitzelte es mich ein wenig in den Augen, so daß ich sie wischen mußte.
»Und seinen Mann mußte er auch stehen, seit man dich entführt hat, jedenfalls Mistress Wengrave zufolge. Er ist vor Gericht gegangen und klagt gegen die de Vilers, daß sie die Mädchen herausgeben. Er sagt, es gehört sich nicht, daß Roger Kendalls Töchter auf dem Land versauern oder ins Kloster gesteckt werden, nur damit so ein habgieriger Stiefvater Ruhe gibt. Mistress Wengrave sagt, er ist darüber furchtbar erzürnt. Er sagt, es geht ihm nicht ums Geld, sondern ums Prinzip. Irgendwie will er ein Zeichen setzen, daß der Landadel in der City nicht straflos räubern kann.«
»Oh, das hört sich ganz nach ihm an. Darüber haben er und Master Kendall sich liebend gern unterhalten, wenn es nicht gerade um die Tuchhändlergilde oder die Lagerung der neuen Rohwolle ging.«
»Was willst du nun tun, Margaret?«
»Ach, Mutter Hilde, ich habe mir die Füße wundgelaufen, und die Mädchen haben geheult. Und ich habe nichts herausgefunden, als daß demnächst ein weiterer Geleitzug Kaufmanskoggen erwartet wird – die wurden zu der Zeit, als die Kogge hier in London eingelaufen ist, noch beladen. Sie haben Verwundete und ein paar englische Ritter an Bord, welche auf Ehrenwort nach Haus dürfen, um ihr Lösegeld zu holen. Wenn sie landen, bin ich zur Stelle, doch bis dahin kann ich gar nichts tun – außer mich vielleicht um das Durcheinander zu Hause kümmern.«
»Ein halbes Jahr Lohn für einen Haushalt, Margaret – das ist kein Spaß. Und du bist ohne einen Penny durchgebrannt.«
»Macht nichts, Hilde – ich frage einfach Master Kendall. Und wenn er mit dem Geld recht hat, dann hat er auch recht mit Gregory, dann ist er wirklich noch am Leben. Und ich bin nicht töricht, weil ich Nachricht von ihm haben will. Mutter Hilde, du glaubst gar nicht, wieviele Leute sich heute über mich lustig gemacht haben? Sogar ein Fischweib! Und drei Heiratsanträge habe ich auch bekommen, obwohl die Männer betrunken waren und es nicht richtig zählt. Und im Einhorn haben sechs Flegel die ganze Zeit, während ich mich mit einem alten Waffenmeister unterhalten habe, dieses gräßliche Lied über die trügerischen Weiberherzen gesungen. Und – Mutter Hilde, du hast doch nicht etwa schon das schreckliche Lied von der Mauer des Kaufmanns gehört, die so hoch, hoch, hoch war, nein?«
»Leider ja, aber ich hätte kein Sterbenswörtchen darüber verloren.«
»Das haben sie auch gesungen, obwohl sie nicht wußten, daß es von mir handelte, aber ich habe mich meiner Lebtage nicht so geschämt. Nicht nur meine Füße sind wund, Mutter Hilde. Das war wirklich ein scheußlicher Tag!« Und damit fing ich an zu weinen. Wenn Mutter Hilde mich nicht in den Arm genommen und immer wieder gesagt hätte: »Ist ja schon gut!« ich würde dort wohl heute noch weinen.
Aber nach dem Mittagessen, als Hilde und ich abwuschen, während Bet Wasser holte und Ciarice den Kochtopf mit Sand scheuerte, sagte Mutter Hilde nachdenklich: »Margaret – du solltest an deine Sicherheit denken. Wenn irgendeiner von deinen Verwandten sich an mich erinnert, dann gibt es auf der ganzen Welt nichts, was sie daran hindern könnte, dich wieder einzufangen. Vorsichtshalber solltest du sobald wie möglich zu Master Wengrave ziehen, noch ehe sie auf den Gedanken kommen, in der City nach dir zu forschen.« Und weil mir einfiel, wie wenig es ihnen ausmachte, wahllos Leichen von erschlagenen Bürgern zurückzulassen, schien es mir geraten, sie nicht auf Mutter Hildes Spur zu führen.
Und so geschah es, daß ich mir schon nachmittags mit Cecily, Alison und Lion im Schlepptau einen Weg durch den Abfall auf der Straße suchte. Ich hatte einen Plan: Ich wollte herausfinden, wo Gregory steckte, und wenn Malachi nach Hause kam, würde ich ihn bitten, Gregory zu holen, denn Bruder Malachi ist auf seiner Suche nach dem Stein der Weisen auf der ganzen Welt herumgekommen, und der Stein ist gewißlich schwerer zu finden als ein Mensch. Ich war so mit meinen Sorgen beschäftigt und in meine Gedanken versunken, daß ich kaum mitbekam, daß die Mädchen ein neues Spiel spielten: Sie wollten Lion alles haargenau nachmachen und die Welt sozusagen vom Hundestandpunkt aus betrachten. Also, wie gehst du nun vor, dachte ich bei mir – erst die Straße sehr sorgsam prüfen und vielleicht die Hintertür nehmen, damit du ja nicht gesehen wirst.
Ich war erleichtert,
Weitere Kostenlose Bücher