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Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)

Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)

Titel: Die Visionen der Seidenweberin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Wertheim
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kämpfte mit sich. Cassander wartete die Antwort nicht ab. Er spürte, daß seine Zeit gekommen war. Seine Sätze überschlugen sich nun fast. »Versprich mir, Sohn, daß du dein Bestes tun wirst, um diesen Luthger und seine Tochter zu retten. Ich war zu schwach. Ich war zu schwach. Nur die Jugend ist für die Taten gemacht, das Alter für Weisheit und Schmerz.«
    Lazarus sank neben dem Bett auf die Knie und faßte zart die Rechte Cassanders. »Ich werde alles für sie tun, was in meiner Macht steht, Cassander. Wenigstens das habe ich von Euch gelernt, daß man die Menschen in all ihrer Torheit und Schönheit lieben soll, auch wenn man sie nicht achten kann.«
    »Nicht von mir, von Christus lerntest du das.«
    Lazarus schwieg, obwohl ihm eine trotzige Erwiderung auf den Lippen lag. Cassanders Hand krallte sich unter der seinen plötzlich in die Laken. Sein Körper schnellte nach oben, als säße er auf einer mechanischen Feder. Mit lauter, gesunder Stimme sprach er: »Gelobt sei Jesus Christus. Ich bin da.« Ein Seufzen. Entseelt fiel der Körper auf das Lager zurück.
    Lazarus erhob sich, ohne einen Blick auf das Bett zu werfen, schnell durchquerte er die Zelle, riß die Tür auf und rief nach dem Ordenspriester. Der trat ein, auf den Lippen die ersten Verse der Sterbelitaneien. Vor der Zelle waren bereits die roten Leuchter für die Trauerkerzen aufgestellt. Im Kreuzgang vor dem Krankentrakt zankten die Spatzen.
    3
    H astig hatten die Mädchen die Kleider getauscht. Tringin stand als Begine da, das graue Überkleid spannte über ihrer Brust, Columba schob eine letzte Strähne ihres Blondhaars unter die Haube. »So«, sagte sie und betrachtete zufrieden ihr Werk. »Nun geh, aber vergiß nicht, deinen Kopf in Demut gesenkt zu halten.«
    Tringin starrte sie fassungslos an. »Gehen? Allein?«
    »Natürlich. Schließlich war ich auch allein, als ich den Turm betrat. Eine Botin Rebeccas kam, eine geht. So einfach ist das. Der Nachtwächter hat nicht gesagt, daß es ein Bürgermädchen war, das im Auftrag Rebeccas vorsprach. Der Tagwächter wird also keinen Verdacht schöpfen, wenn eine graue Frau den Turm verläßt.«
    »Und du?«
    »Gib mir eine Ohrfeige, eine kräftige.«
    Tringin schüttelte verwirrt den Kopf. »Was soll dieser Schabernack?«
    »Ich muß behaupten, du hättest mich besinnungslos geschlagen, mir dann das Wäschebündel der Tante geraubt und ...«
    Tringin blitzte sie wütend an. »Weiß Rebecca davon? Columba, niemand wird dir diesen Unsinn glauben.«
    »Man wird es wohl müssen, ich bin eine van Geldern«, antwortete ihre Gefährtin trotzig.
    Tringin begann an der Haube zu zerren. »Niemals werde ich dich oder Rebecca in Gefahr bringen. Vergiß den Plan, gib mir meine Kleider zurück.«
    »Ich denke nicht daran.« Mit beiden Händen drückte Columba die Haube wieder auf Tringins Kopf.
    Das blonde Mädchen wich zurück und setzte sich auf die Pritsche. »Du wirst mich nicht zwingen, dich ins Unglück zu bringen. Du ...«
    Ein lauter »Hab acht«-Ruf am Fuße des Turmes brachte sie zum Schweigen. Beide Mädchen stürzten zum vergitterten Fenster, das auf die Frankenwerft hinausging. Sie sahen den Spitzhut des Rutenträgers, dahinter den Greven und den Gewaltrichter mit ihren samtenen Baretten, dann den kahlen Schädel eines alten Mannes. Die Hände waren ihm auf den Rücken gekettet, ein eiserner Knebel steckte in seinem Mund, um ihn daran zu hindern, Gotteslästerungen auszustoßen.
    »Vater!« rief Tringin entsetzt. »Sie führen Vater ab. Columba, wir sind verloren.«
    »Du nicht«, rief diese beschwörend und verzweifelt, »rasch! Noch kannst du den Turm unbemerkt verlassen. Die Zeremonie wird eine Weile dauern.«
    Unten stellten sich Gewaltrichter, Turmmeister und Turmschreiber mit dem Rücken zur Stadtmauer. Gaffer scharten sich in einem Halbkreis um sie. Mit feierlicher Stimme sprach der Gewaltrichter die Übergabeformel, wobei er forderte, dem Gefangenen Recht und kein Unrecht widerfahren zu lassen. So schrieben es die städtischen Gesetze vor.
    Luthger biß in den Knebel und stieß einen Laut des Unwillens hervor.
    Der Greve gab nun formelhaft Antwort und fragte: »Ist der Gefangene der peinlichen Befragung unterzogen worden?«
    »Nein«, antwortete der Turmmeister.
    »Hat er seine Habseligkeiten zurückerhalten?«
    »Ja, hochwürdiger Greve, sein Besitz an Kleidern und der Inhalt seiner Taschen wurden ihm ausgehändigt. Nur diese Ketzerbibel behielten wir als Beweisstück ein.« Er übergab

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