Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)

Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)

Titel: Die Visionen der Seidenweberin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Wertheim
Vom Netzwerk:
auf Fingern und Zehen, Fieber und Darmkoliken hatten ihn geschüttelt, jagende Schmerzen seinen ausgemergelten Leib gequält. Der Kampf war vorbei. Cassander wußte, daß er seine letzten Atemzüge tat, und tat sie friedlich, fast heiter. »Lösche die Kerzen, damit ich das Morgenlicht sehe«, sagte er mit großer Kraftanstrengung.
    Lazarus gehorchte schweigend. Die Geistlichen, darunter der Domdechant, Mönche und ein Priester, hatten auf Wunsch des Sterbenden die Zelle bei Einbruch der Dämmerung verlassen. Sie hatten ihre Pflichten erfüllt: die Letzte Ölung erteilt, die Sterbegebete verlesen und, wie sie meinten, ein großes, ein gutes, ein barmherziges Werk getan, indem sie den von Krämpfen geschüttelten, halb besinnungslosen Gelehrten überredet hatten, seine Thesen zur religiösen Toleranz zu widerrufen und den Druck seiner entsprechenden Schriften zu untersagen. Zornig und schweigend hatte Lazarus es verfolgt, nachdem er vergeblich versucht hatte, die eifrigen Kirchendiener von ihren Überredungsversuchen abzuhalten. Cassander aber hatte ihm mit wehen Augen einen warnenden Blick zugeworfen.
    »Den Psalm De profundis, Lazarus, in Deutsch«, flüsterte der Greis nun heiser.
    Lazarus setzte sich an sein Bett und lächelte mühsam. »Es heißt, das sei ein ketzerischer Psalm.«
    Der Alte rang sich ein erwiderndes Lächeln ab. »Ich bin eben unverbesserlich«, hauchte er.
    Lazarus sprach: »Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir. Herr, höre meine Stimme! Wenn du, Herr, Sünden rechnen willst, wer wird bestehen? Denn bei dir ist die Vergebung, daß man dich fürchte. Meine Seele wartet auf den Herrn von einer Morgenwache bis zur andern. Denn bei dem Herrn ist die Gnade ...«
    Cassander hob leise eine Hand. »Genug, mein Sohn, es ist genug. Du siehst, so einfach ist das. Beim Herrn allein ist die Gnade, egal was hinieden die großen Religionsgelehrten behaupten.« Er seufzte und ließ langsam die Hand sinken. Seine Augen schlossen sich, sein Atem kam nur noch stoßweise.
    Lazarus neigte den Kopf auf die Brust und kämpfte gegen die Tränen. Mit Cassander ging der letzte väterliche Freund aus einer heiteren, hellen Vergangenheit. Es war ihm, als würde mit dem gelehrten Greis das Licht des Humanismus endgültig verlöschen, das ganze Jahrhundert in Dunkelheit versinken. Wut stieg in ihm auf. Hatte man ihn darum in seiner Jugend mit all diesen glänzenden Bildern einer besseren, einer gebildeteren, einer freundlicheren Menschenwelt gefüllt, um ihn nun zurückzulassen an einem wüsten Ort? Zurückzulassen, wie sein Vater es getan hatte. Für eine Wahrheit sterbend, die er ganz in sein Grab mitgenommen hatte. Törichte alte Männer, leere Menschheitsträume, dachte er bitter. Warum habt ihr sie in meine Seele gesenkt, um sie mir dann für immer zu entreißen?
    »Wegen deines Vaters«, rief ihn die matte Stimme des Sterbenden in die Gegenwart zurück. Lazarus hob jäh, wie ertappt den Kopf und zwang sich zu einem freundlichen Lächeln.
    Cassander schloß wieder die Augen, so als müsse er seine Kräfte ganz auf seine Stimme konzentrieren. »Du fragtest mich, wer ihn verraten hat. Ich will es dir sagen, weil du selbst in Gefahr bist.« Er atmete rasselnd, hustete, dann fuhr er fort: »Van Geldern verriet deinen Vater.«
    Lazarus sprang auf. »Van Geldern?« fragte er schrill. »Wie das?«
    Wieder hustete Cassander, gefährliche Röte stieg in seine Wangen, er erholte sich eben noch und flüsterte: »Er schrieb einen Brief an Calvin, in dem er sich darüber empörte, daß man den Schwärmer Servet gefangennahm, obwohl viele Genfer Bürger dagegen wären, denen der Mund verboten sei. Es war ein glühender Brief für die Toleranz. Er zeigte ihn mir und schwärmte von der Freundschaft unter allen humanistischen Brüdern, die stärker sei als der Tod.«
    »War er das, ein Bruder?«
    »Er war ein Verräter, schlimmer als Judas. Er nannte im Brief die Namen der Männer, die mit ihm einer Meinung und gegen Calvins Willkür waren.«
    »Er nannte meinen Vater?« Ungläubig starrte Lazarus den Todkranken an.
    »Er nannte ihn an erster Stelle.«
    »Warum tat er das?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Ich werde es herausfinden.« Lazarus’ Miene verriet grimmige Entschlossenheit. Alarmiert sah der Sterbende ihn an, mit hohler Stimme beschwor er Lazarus: »Die Rache ist ein gefährliches Geschäft. Laß ab von deinen Plänen. Versprich mir, das Haus van Gelderns zu verlassen, mein Sohn. Gehe weg aus Köln, hörst du?«
    Der junge Mann

Weitere Kostenlose Bücher