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Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)

Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)

Titel: Die Visionen der Seidenweberin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Wertheim
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Schon richtig, was das Mädchen da sagte, die städtischen Turmwächter ließen sich von den Leuten des Kurfürsten nicht gern irgendwelche Nachlässigkeiten nachsagen. Möglichst unversehrt und aufrecht sollten die Gefangenen für Verhör und Folter sein. Man wollte schließlich kein Unmensch sein.
    »Rebecca schickt dich, sagst du?«
    Columba nickte und strahlte ihn aus golden funkelnden Augen an.
    »Hinein«, brummte er und wies ihr den Weg mit dem Kopf. Im Nu war sie in der Vorhalle. Sie war leer, denn Turmschreiber und Gerichtsboten saßen mit dem Gewaltrichter beim Wein. Verstohlen blickte Columba sich um. Vor dem Tor wurden Schritte laut. Die Wachablösung.
    »Gott zum Gruße, Goswin.«
    »Gott zum Gruße. Hattest du eine ruhige Nacht?«
    »Gewiß. Eben kamen der Greve und die Schöffen. Wirst das hübsche Spektakel einer Übergabe erleben.«
    Der andere brummte nur, dann fragte er geschäftsmäßig: »Sonst etwas, das zu beachten wäre?«
    »Nichts Besonderes. Die Begine Rebecca schickte jemand, um nach dieser Tringin zu sehen. Ich habe sie passieren lassen.«
    Vortrefflich, dachte Columba. Nun war der Weg nach draußen gesichert. Der Morgenwächter würde sich nicht wundern, wenn in Kürze eine Begine an ihm vorbei den Turm verlassen würde, denn daß ein Bürgermädchen im Auftrag Rebeccas vorgesprochen hatte, sagte der Nachtwächter nicht. Noch einmal atmete sie tief ein, dann stürmte sie die Stufen der gewundenen Treppen hinauf bis in den dritten Stock. Letzte Atempause. Mühsam zwängte sich erstes Morgenlicht durch die Schießscharten, trotzdem herrschte im Turm noch halbe Finsternis. Mit gesenktem Kopf nahm sie die letzte Treppenschnecke zum vierten Stock.
    Auf dem Gang vor Tringins Stube klapperte die Frau des Turmmeisters auf Holzpantinen umher. In den Händen trug sie Schüsseln mit dampfendem Brei und ein rasselndes Schlüsselbund. Sie klopfte an die Tür von Tringins Kammer. »Mach auf«, brummte sie verschlafen, »ich bringe dein letztes Mahl.«
    Wie roh, dachte Columba erzürnt, bezähmte sich aber und trat von hinten an die Frau heran. »Verzeiht«, sagte sie und hielt dabei den Kopf gesenkt.
    »Herr im Himmel, verflucht noch mal«, fuhr die derbe Person herum. »Oh, es tut mir leid, ich wollte nicht ...«
    »Den Höchsten beschwören?« sagte Columba leise.
    »Nein, nein gewiß nicht«, versicherte die Ertappte aufgeregt, »es entfuhr mir nur, es ...«
    »Betet zur Buße drei Rosenkränze. Ich komme im Auftrag der Begine Rebecca, und nun sperrt auf, ich bringe eine Arznei für die Gefangene.«
    Die Erwähnung Rebeccas ließ die Frau wieder zusammenfahren. »Gewiß, gewiß, verzeiht noch einmal.«
    Mit schwerem Rasseln versenkte sie einen Schlüssel im Schloß, drehte und stieß die Eichentür auf. Columba nahm ihr die Breischüssel ab und trat ein. Die Wartefrau zog sich zurück und schloß die Tür. Was fiel den Leuten nur ein, sie so früh bei der Arbeit zu stören. Sie packte einen Eimer und einen Reisigbesen, um den Austritt in der Nische auszufegen.
    Columbas Augen schweiften durch den kargen Raum, über die kleine Pritsche, den abblätternden Putz zum vergitterten Fenster. Tringin stand davor, den Rücken zu ihr gewandt. Columba sah, daß sie die Hände gefaltet hielt und betete.
    »Tringin«, rief sie leise. Das Mädchen fuhr herum und öffnete überrascht den Mund. Columba legte den Zeigefinger an die Lippen. »Psst. Nicht schreien. Schnell, ich bin gekommen, um dich hier herauszuholen.«
    Tringin glitt auf sie zu und betrachtete sie erstaunt. »Wie willst du das machen?«
    Columba streifte den Umhang ab, öffnete Mieder und Rock, schlüpfte aus beidem heraus und stand in grauer Tracht da. Sie nestelte eine Haube hervor und strich sie glatt.
    »Bist du unter die Beginen gegangen? Was soll die Verkleidung?«
    »Das wirst du gleich begreifen, rasch, zieh deine Sachen aus.«
    »Columba!«
    »Schwatz nicht, mach schon, wir müssen uns beeilen.«
    »Und Vater?«
    Columba zögerte kurz. »Für ihn wird ein anderer sorgen«, log sie. Daß unter ihren Füßen bereits der Greve mit seinen Schöffen wartete, verschwieg sie.
    2
    S o soll ich also noch einmal den Tag begrüßen.« Erschöpft ließ Cassander das bleiche Haupt in das Kissen zurücksinken. Schweiß benetzte sein Gesicht, auf das der Tod schon sein Siegel gedrückt hatte. Gründlich war der schwarze Gevatter vorgegangen. Erbarmungslos. Die Gicht hatte fast alle Gelenke Cassanders befallen, entzündet und versteift. Knoten saßen ihm

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