Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)
Stimme zum Täufertum und warb mit aufrührerischer Predigt für seine Religion, obwohl er aus den Wunden auf seinem Rücken heftig blutete. Wüst beschimpfte er die Pfaffen als wollüstige Sünder, die wie Schweine lebten. In so scharfen Worten übte er Kritik, daß das Volk – nicht eben freundlich gegen die oft ausschweifenden Gottesdiener gesinnt – Gefallen daran fand. Der Diener des Scharfrichters hatte dem Aufwiegler endlich eine Maulschelle verpaßt, woraufhin Luthgers Tochter sich ans Volk gewandt hatte.
Der Turmmeister hatte sie gewähren lassen, denn er kannte sie als brave Gefangene, die wenig mit Religionsdingen im Sinn hatte und gerne mit seinen Kindern spielte. Er nahm an, sie würde nun Abbitte tun für den irrenden Vater und vor dem Volk um Gnade flehen. Aber nein, sie brachte mit leidenschaftlicher Stimme ebenso blasphemische Ketzereien hervor. »Sieh Vater!« rief sie. »Der ganze Himmel tut sich auf, und ich sehe hunderttausend Engel über uns jubeln, laß uns froh sein: Wir werden für die Wahrheit sterben.« Zu ärgerlich, daß just in jenem Moment tatsächlich die fahle Wintersonne durch die Wolkendecke brach und der Himmel für einen Moment ganz in Gold, andere sagten in Blut, schwamm. Ja, Gnade war unmöglich geworden. Seit beinahe vierzig Jahren stand auf Wiedertäufertum die Todesstrafe, und erst 1555 hatte der Rat das in einem Religionsedikt bekräftigt.
Columba tat einen Schritt aus der Nische, unsicher, ob ihr Plan nun noch durchführbar war. Verfluchter Lazarus! Warum hatte er nicht sofort gehandelt, nachdem ihm der Beschluß des Rates bekannt geworden war.
Der Rutenträger hob den Stab und schlug dreimal gegen das fest verklausterte Tor des Frankenturms. Sofort wurde ihm aufgetan. Der Nachtwächter neigte sich tief vor dem Richterboten, der Greve bat in genau festgeschriebenen Formeln, den Gewaltrichter und den Turmmeister sehen zu dürfen: »Denn mir, dem kurfürstlichen Greven, wurde kund und zu wissen getan, daß ihr in eurem Turm unbelehrbare, schimpfliche Gotteslästerer verwahrt.«
Der Gewaltrichter trat wie auf ein Stichwort hinter dem Nachtwächter hervor. Er trug volles Amtsornat, grüßte ehrwürdig, bat die Amtmänner des Kurfürsten einzutreten in den städtischen Turm und lud sie – auch das war Sitte – zunächst auf ein Glas Wein.
Columba atmete tief ein. Sie mußte rasch handeln, in wenigen Minuten würde der Nachtwächter abgelöst werden. Sie mußte vorher in den Turm gelangen. Sie lief zu dem Kerl, der in langen Schritten vor dem Tor auf und ab ging.
»He, guter Mann«, sprach sie ihn mit warmer Stimme an.
Er drehte sich um und runzelte die Stirn. »Was willst du hier so früh am Morgen, Mädchen, ohne Begleitung?«
Columba schluckte. »Meine Tante, die Begine Rebecca, schickt mich.«
Das Gesicht des Wächters hellte sich auf. »Die Frau Rebecca, freilich. Sag ihr Dank für ihre Salbe. Mein böser Finger ist wieder gut, dabei hatte der Barbier geraten, ihn abzunehmen, weil er meinte, daß das Fleisch schon brandig sei. Ich hatte die Wunde mit Speckscheiben umwickelt, was nach Ansicht Rebeccas falsch war.«
Columba, einerseits erleichtert, daß der Nachtwächter so zutraulich war, andererseits ungeduldig, weil er anhob, seine Leidensgeschichte noch weiter auszumalen, legte ihm eine Hand auf den Arm. »Ich freue mich, daß es Euch besser geht. Rebecca sagte, die Rettung kam im letzten Augenblick.«
»Wohl wahr.« Der Wächter nickte mit seltsamem Stolz. »Wohl war. Meine Frau meinte auch ...«
Wieder unterbrach ihn Columba. Jeden Moment konnte der Tagwächter erscheinen. »Nun, Ihr versteht, wie rasch eine harmlose Wunde einem zum Verderben werden kann. Darum schickt mich Rebecca, dem Mädchen Tringin eben diese Salbe zu bringen. Sie fürchtet, sonst könnte auch ihre Kopfwunde faulen und brandig werden.«
Der Nachtwächter kratzte sich den Schädel. »Die Tringin? Ach, das tut keine Not mehr, man liefert sie mit dem anderen Ketzer gerade ans Hochgericht. Die hohen Herren sind schon da. Noch ein Glas Wein, dann ...«
Vertraulich beugte Columba den Kopf vor. »Ihr habt recht, guter Mann, sie ist so gut wie tot, wenn sie erst einmal an den Greven ausgeliefert ist, aber stellt Euch vor, sie stirbt in seinem Keller an den Folgen der schlechten Behandlung auf dem Frankenturm. Der Greve sähe es gewiß nicht gern. Man achtet streng auf das Befinden der Gefangenen und will einen ordnungsgemäßen Prozeß.«
Der Mann kaute nachdenklich an seinem Schnurrbart.
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