Die Vogelfrau - Roman
In knappen Worten kommentierte sie die Umgebung. Unterhalb der Brücke zeichnete sie den Drudenfuß. Auf die fünf Zacken setzte sie jeweils einen kleinen Kreis. In die Mitte malte sie ein M, versehen mit einem dicken Fragezeichen.
»So.« Sie lehnte sich zurück. »Exakt so war die Fundsituation.«
Cenk und der Kommissar beugten sich interessiert über das Blatt.
»Die Kreise entsprechen den fünf Schädeln. Die Altersbestimmung läuft noch, aber anhand der Steine können wir den Zeitraum ziemlich sicher auf das ausgehende 16. Jahrhundert eingrenzen.«
»Aber das ist doch kein normales Grab«, wandte der Kommissar ein.
»Genau. Wir haben nur die Schädel gefunden; mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit handelt es sich um Frauenschädel. Sie weisen teilweise Verfärbungen auf. Wir werden noch untersuchen müssen, ob es sich hierbei um Rußantragungen handelt. Es ist noch einiges offen, aber Hoffmann hatte ziemlich schnell eine plausible Arbeitshypothese zur Hand.«
»Die Hexenhypothese«. Der Kommissar streckte vorsichtig seine Beine aus. Zu seinen Füßen schnaufte es asthmatischrhythmisch. Archäologie hatte Ähnlichkeiten mit Kriminalistik.
Cenk lächelte der Löble aufmunternd zu. Die fasste offensichtlich Vertrauen. Befragt zu ihrem eigenen Fachgebiet, gewann sie zusehends an Sicherheit. »Trotz einiger ungeklärter Einzelheiten besteht kaum ein Zweifel daran, dass es sich hier um eine kultisch genutzte Begräbnisstätte handelt. Soll ich Ihnen etwas zum historischen Hintergrund erzählen?« Sie legte den Kopf schief. Fast schien sie zu bitten. »Die ganze Sache erschließt sich dem Verständnis viel besser, wenn Sie substanzielle Hintergrundinformationen haben.«
Da war wieder dieser gestelzte Tonfall. Der Kommissar horchte auf. Vielleicht waren diese Informationen gar nicht so substanziell? Wollte die Löble ablenken? Besaß sie überhaupt so viel Raffinesse?
»Wie Sie sicher wissen, fiel die Hauptzeit der Hexenverfolgung am Bodensee in das 16. und 17. Jahrhundert.«
»Moment mal«, der Kommissar war irritiert. »Hexenverfolgung – spielte sich das denn nicht im finsteren Mittelalter ab? So im 12./13. Jahrhundert? Ich dachte immer, das war viel früher.«
»Das glauben viele Menschen.« Die Stimme der Löble klang sanft und geduldig. Als Museumspädagogin wäre sie bestimmt nicht schlecht. »In Wirklichkeit war die Hexenangst, die um sich griff, ein Zeichen der Verwirrung. Verwirrung von Menschen, deren altgewohntes, fest gefügtes Weltbild ins Wanken geriet. Althergebrachte Werte galten nichts mehr. Ist die Welt eine Scheibe oder eine Kugel? Kreisen wir um die Sonne, leben wir auf einem winzigen Stern unter Milliarden anderer Sterne oder dreht sich das gesamte Universum um die auserwählte Menschheit? Fragen über Fragen. Viele Menschen wären nur zu gerne wieder in die alten, bewährten Denkschemata zurückgeflüchtet. Aber es gab keinen Weg mehr zurück. Vor allem die italienischen Vordenker und Forscher hatten Türen aufgestoßen, die sich nicht mehr schließen ließen.«
»Was hat das eigentlich mit unserem Fall zu tun?«, wandte der Kommissar ein. Archäologen waren eine elend weitschweifige Berufsgruppe. Aber es machte Spaß, ihnen zuzuhören. Es gab keinen Grund, die Dinge überstürzt anzugehen. Sowohl die gerichtsmedizinische Untersuchung als auch die kriminaltechnische Spurenauswertung brauchten ihre Zeit. Vor dem späten Nachmittag war nichts Substanzielles zu erwarten. Was tat es, dass die beiden Hauptverdächtigen viel erzählten? Mit ein bisschen Glück erzählte einer der beiden vielleicht sogar etwas zu viel. Auch das Zuhören war eine Kunst. Allmählich fand Bloch Gefallen daran, nicht im Stundentakt zu planen, sondern in Jahrhunderten. Er entspannte sich.
Die Löble fuhr fort:
»Die Funde unserer Ausgrabungsstätte führen uns zurück in die Jahre 1577 bis 1584. In dieser Zeit wurden folgende Personen in Konstanz zum Tode verurteilt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt: Ursula Huw und Barbel Beck, Fortunata Huch und Elisabeth Lacherin, Katharina Ruff und Margaretha Blum sowie zuletzt Anna Stumpin, Katharina Freitägin und Anna Herrenbergin.« Die Löble wusste alle Namen auswendig und sagte sie auf eine Weise, als ob sie jede der neun Frauen persönlich gekannt hätte.
»Sie müssen wissen, dass damals das Leben in den Gebieten rund um den Bodensee extrem unsicher war. Konstanz ist und war Grenzgebiet. Ein Krieg zwischen den Kreuzlingern und den Konstanzern wäre heute nicht mehr
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