Die Vogelfrau - Roman
etwas ganz anderes finden – etwas, das uns Aufschluss gäbe über die Nutzung dieses Ortes oder sogar nähere Informationen über seine Erbauer? Oder würde dort ganz einfach nichts sein? Letzteres war übrigens die feste Überzeugung von Professor Hoffmann.«
Die Löble lehnte sich zurück und zupfte gedankenverloren eine Fluse aus ihrem bunten Pullover. »Da hat er sich aber gewaltig getäuscht.«
Der Kommissar versuchte, das entstandene Schweigen zu brechen. Im Gesicht der jungen Frau spiegelten sich zwei gegensätzliche Empfindungen. Weiche, schlaffe Ratlosigkeit stritt gegen hartmäulige Bitterkeit.
Die Ratlosigkeit siegte.
»Nie werde ich den Anblick vergessen.« Ihre Stimme wurde immer leiser; fast flüsterte sie. »Es war in der Mitte des Drudenfußes. Zuerst dachten wir, es sei ein Stück altes Leder. Wir waren alle wie elektrisiert. Ich erhielt den Auftrag, das Ding freizulegen. Ich nahm mir viel Zeit dafür. Wissen Sie – man macht es mit einem Pinsel.« Mit wischenden und stupfenden Handbewegungen deutete die Löble ihre Vorgehensweise am Ausgrabungsort an. »Schon bald schmerzen einem bei dieser Arbeit Schultern und Rücken. Der Schweiß läuft einem in die Augen, bis sie tränen. Ich weiß gar nicht, warum ich Ihnen das alles erzähle.«
»Sie haben recht – wir kommen wohl besser zum Kern der Sache.«
»Das ist es ja. Es ist alles so rätselhaft. Ich kann es mir nicht erklären und versuche deshalb, so genau wie möglich zu sein. Vielleicht habe ich trotz aller Genauigkeit eine Kleinigkeit übersehen, die vielleicht wichtig sein könnte?«
Ihr Gesicht drückte völlige Arglosigkeit aus. Ein fragender Ausdruck lag um ihren Mund.
»Dann erzählen Sie mal weiter.«
»Nie werde ich den Anblick vergessen, als aus dem Sand allmählich ein Gesicht hervorkam. Es war kein Stück Leder, es war die Stirn. Ich arbeitete die Nase heraus, die hohen Wangenknochen, die eingefallenen Augen mit Lidern wie vertrocknetes Herbstlaub, die Lippen, schwarz verfärbt und eingetrocknet, messerrückendünn. Das Gesicht einer jungen Frau. Sie sah aus wie schlafend. Ich konnte einfach nicht aufhören, sie zu betrachten. Sie war – wunderschön.« Die Löble wurde geradezu lyrisch.
»Sie war eine Mumie«, stellte der Kommissar sachlich fest. »Die Mumie einer jungen Frau – wie stand es noch in der Zeitung? ›Bodensee-Ötzi‹, ›Indianerprinzessin vom Bodensee‹ oder so ähnlich!«
»Genau.« Die Löble kehrte wieder zu ihrem gewohnten Tonfall zurück. »Die Mumie war offensichtlich jüngeren Datums, aber irgendjemand muss von diesem jahrhundertealten Ritualort gewusst und sie dort deponiert haben. Die Mumie war nackt – vielleicht ist das der Grund, weshalb sie so gut erhalten ist? Sie sah aus wie – verzeihen Sie mir den Ausdruck –, wie luftgetrocknet. Wir nehmen an, dass sie nach indianischem Ritus einer Luftbestattung auf einem Lattengerüst unterzogen wurde und danach, in Lederhäute eingewickelt, an diesen Ort gebracht wurde. Ihr Kopf war geschoren, sie war bis zum Hals in schmucklose Lederhäute eingewickelt, die Arme waren überkreuzt und auf ihrer Brust fand sich ein kreisförmiges Amulett. Dieses Amulett ist eindeutig indianischen Ursprungs.«
»Rund, aus Metall und mit Türkisen verziert?«
»Genau.«
»Das Amulett haben wir auf Hoffmanns Schreibtisch gefunden.«
»Das kann ich mir gut vorstellen. Diese Mumie war zwar für die Medien ein gefundenes Fressen, aber ihm war es gar nicht recht, dass er auf einmal so im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stand; gar nicht recht.«
Gräber hat das aber ganz anders dargestellt, dachte der Kommissar. »Hoffmann war doch normalerweise nicht gerade publikumsscheu?«
»Nein, sicher nicht.« Die Löble begann wieder, unsichtbare Flusen aus ihrem Pullover zu zupfen. »Aber diese Sache war seltsam. Hexen und Indianer. 400 Jahre alte Schädel und eine Mumie, die allerhöchstens 100 Jahre alt ist. Wie soll das zusammenpassen? So hatte ich Hoffmann noch nie erlebt.«
»Wie war er denn normalerweise? Und welche Veränderungen haben Sie an ihm konkret beobachtet?« Ein Wink hin zu Cenk. Der zog den Notizblock wieder zu sich heran. Es war besser, Cenk schreiben zu lassen. Er hatte einfach die besser lesbare Handschrift.
»Normalerweise machte Hoffmann immer den Eindruck, als ob er alles im Griff hatte. Die Archäologie ist weiß Gott eine Wissenschaft, die manchmal Überraschendes zutage fördert. Aber bei Hoffmann gab es eigentlich keine allzu großen
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